Lukkas Erbe
hereinkam, schaute Achim auf, war sofort auf den Beinen, stürzte an ihr vorbei durch die Tür und die Treppe hinauf. Nicole hörte oben die Haustür zuschlagen. Ben lächelte sie an, wie er sie immer anlächelte, sagte: «Fein.» Dann stand er ebenfalls auf und ging zur Treppe. Nicole folgte ihm. Er erreichte die Diele und steuerte das Wohnzimmer an. Miriam saß unverändert im Sessel. Er ging auf sie zu mit einem Lächeln. «Maus.»
«Wirf ihn raus!», verlangte Miriam.
Nicole wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die beiden Männer im Keller, Achim Lässlers Flucht, das Messer in Miriams Schoß und ihre wirren Erklärungen.
Ben hob einen Finger, als wolle er ein Kind zur Aufmerksamkeit ermahnen. «Maus», sagte er noch einmal, zupfte an Nicoles Ärmel und bedeutete ihr, mitzukommen. Die Terrassentüren waren immer noch geöffnet. Er schloss eine, schob sie ins Freie vor die geschlossene Tür, mit dem Gesicht zum Wohnzimmer.
«Fein», sagte er, kam wieder herein, deutete auf den freien Sessel. «Freund.» Dann ging er zu dem Schrank, in dem das Fernsehgerät stand. «Finger weg», sagte er.
Nicole sah, dass Miriam blass wurde. Und sie glaubte zu begreifen, was er demonstrierte, kam ebenfalls wieder herein und schloss die Tür. «Draußen stand ein Mädchen», stellte sie fest. «Lukka saß da und hat sich was im Fernseher angeschaut. Wahrscheinlich einen Horrorfilm, der rein zufällig aufs Band geraten ist, weil die Sportschau überzogen hatte. Und wenn Ben im Mais lag. Er hatte früher immer ein Fernglas dabei, damit konnte er auch bei Nacht jede Einzelheit auf dem Bildschirm erkennen.»
Ben nickte eifrig, als hätte er jedes Wort verstanden. Dann ging er zu Miriam, streckte die Hand aus, als wolle er sie streicheln.
«Fass mich nicht an!», schrie Miriam, nahm das Messer aus ihrem Schoß und hielt ihm drohend die Klinge entgegen, gerade als er mit den Fingerspitzen ihr Gesicht berührte.
Ob Miriam ihn verletzen wollte, hätte Nicole später nicht sagen können, dafür ging es zu schnell. Vielleicht war es nur ein Reflex, um seine Hand abzuwehren. Miriam stieß seinen Arm beiseite, und sie hielt das Messer hoch. Nicole hörte ihn zischend die Luft einziehen, dann tropfte auch schon sein Blut auf den Teppich.
Mit einem raschen Griff packte er Miriams Handgelenk, nahm ihr das Messer ab. Für einen Moment dachte Nicole, er würde zustechen, weil er den blutenden Arm anhob. Aber er schleuderte nur das Messer durch den Raum.
«Finger weg, Maus», sagte er. «Weh.» Dabei hielt er Miriam seinen blutenden Arm vor. Und dann schlug er ihr auf die Finger, als wolle er ein kleines Kind für verbotenes Tun bestrafen.
«Schaff ihn endlich raus», flehte Miriam.
Er nickte, zupfte an Nicoles Ärmel, zeigte in die Diele und sagte: «Fein mit.»
Was er wollte, war eindeutig. Nur fort aus diesem Haus. Nicole empfand ähnlich, als sie die Haustür von außen hinter sich zuzog. Sie nahm ihn mit in ihre Wohnung, versorgte die blutende Wunde. Allzu tief ins Fleisch ging der Schnitt nicht, ein Verband reichte. Er erzählte ihr die ganze Zeit etwas, aber da er keine Namen aussprach, verstand sie nicht, was er meinte.
Sie brachte ihn zu Bruno Kleus Hof. Patrizia geriet außer sich, wollte Anzeige erstatten wegen Körperverletzung. Eine Anzeige hielt Nicole für überflüssig. Sie war überzeugt, dass Ben nie wieder einen Fuß über die Schwelle des Bungalows setzen würde.
Die letzte Erkenntnis
Es gab nach dem Schnitt in Bens Arm Anfang Mai 97 einige Tage, da war Miriam halbwegs entschlossen, dem Dorf den Rücken zuzukehren. Sie sprach mit Nicole darüber, erklärte, dass sie keinen Sinn darin sah, noch länger zu bleiben.
Nicole wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Helfen konnte sie Miriam nicht, das hatte sie nun endgültig begriffen. Immer wieder fing Miriam mit Lukka und den Morden an. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie das Dorf verließ, besser für Miriam, besser für Ben. Patrizia erzählte, dass er mindestens zweimal am Tag mit seinem Kasten zur Haustür wollte, und jedes Mal erklärte er dabei: «Maus.» Patrizia wusste nicht, wen er damit meinte. Nicole wusste es sehr wohl und verstand es nicht. Was erwartete er denn noch von einer Frau, die ihn im Keller eingesperrt, Achim Lässler zu ihm geschickt hatte in der Hoffnung, dass sie sich gegenseitig die Köpfe einschlugen? Die ihn mit einem Messer verletzte, ihn anschrie?
Es wäre bestimmt besser gewesen, wenn Miriam aus dem Dorf
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