Lukkas Erbe
erkennen, BrunosTochter, ein Gesicht so schön wie Nicoles, verzerrt in einem qualvollen Todeskampf. Sie besaß genügend medizinische Kenntnisse, um zu wissen, dass Gesichtszüge im Tod erschlafften und nichts mehr zum Ausdruck brachten, keine Angst, keinen Schmerz, kein Entsetzen. Es war die Dokumentation des Grauens, der hölzerne Beweis, dass Ben dabei gewesen sein musste. Er hatte aus unmittelbarer Nähe gesehen, wie Marlene Jensen starb. Und wenn sie im Keller gestorben war, von außen hatte er das nicht beobachten können. Es gab kein Fenster im Keller. Die Vorstellung, dass er neben Lukka gestanden haben musste, brachte sie fast um den Verstand. Es war so ungeheuerlich. Bis dahin war Ben für sie unschuldig gewesen, nun sah plötzlich alles ganz anders aus.
17. Oktober 1997
Dirk Schumann und ich fuhren an dem Morgen etwa zur gleichen Zeit los. Er war nicht begeistert, dass ich ebenfalls ins Dorf wollte, protestierte aber auch nicht. Er hatte den Staatsanwalt überzeugt, dass Vanessa Greven und Dorit Prang sehr wahrscheinlich ermordet worden waren, zwei Hundertschaften Polizei und einen Leichenspürhund angefordert. Mit Nicole Rehbach hatte er auch gesprochen, jedoch nur gehört, dass eine dunkel gekleidete Person in ihrem Garten gewesen sei, die sie im Nebel für Ben gehalten habe.
Ich verbrachte zehn Minuten an Nicoles Krankenbett. Auch sie bezweifelte inzwischen, dass Ben der Mann in ihrem Garten gewesen sein könnte. Aber wer einen Grund gehabt hätte, ihr so etwas anzutun, wusste sie nicht.
Ich versuchte mich zu erinnern, wie der Mann ausgesehen hatte, der mir auf dem Weg entgegengekommen war. Ich wurde das Gefühl nicht los, den Mörder gesehen zu haben. Er war groß gewesen, aber nicht so groß wie Ben. Er war kräftig gewesen, aber nicht so kräftig wie Ben. Es konnte nicht Ben gewesen sein. Und er war immer noch verschwunden, vermutlich tot, ich war nicht die Einzige, die so dachte.
Als ich im Dorf eintraf, lief die Suche nach den Opfern bereits. Es passte Dirk nicht, dass ich dazukam, er duldete es aber und sagte nur: «Jetzt suchen wir wahrscheinlich schon fünf, wenn wir Ben dazunehmen.»
Inzwischen waren auf der Wache in Lohberg zwei Abgängigkeitsanzeigen eingegangen, Rita Meier und Katrin Terjung. Eine Hundertschaft Polizei durchkämmte das Bendchen. Mit dem Leichenspürhund begannen sie bei Leonard Darscheids Atelier, weil es zu Dorit Prang nur Maria Jensens Vermutung gab, ihr sei auf dem Friedhof etwas passiert.
Es gab auch bei Vanessa Greven nur die Vermutung, dass sie über den Feldweg fortgebracht worden war. Doch daran grenzten gleich zwei nur zu gut bekannte Grundstücke, die Apfelwiese und die Brombeerwildnis daneben, in der wieder einmal kein Durchkommen war, abgesehen von dem schmalen Trampelpfad, der Zeugnis ablegte, dass beim Birnbaum immer noch jemand regelmäßig der Opfer gedachte. So sah es jedenfalls aus. An der Fundstelle lag ein verwelkter Blumenstrauß. Dass sich nicht nur Bruno Kleu häufig dort aufgehalten hatte, war nicht zu erkennen.
Den Kadaver der Katze fanden sie schnell, weil der Plastiksack beschädigt war. Er lag auch nicht sehr tief im Erdreich – nicht weit entfernt von dem verwelkten Blumenstrauß. Bis zum frühen Nachmittag streiften sie mitdem Hund durch die Brombeerwildnis. Sie fanden nichts weiter.
Dirk meinte, die Zeit reiche noch für einen Abstecher zum Bruch. Der Feldweg vom Bendchen zum Lässler-Hof, der am Bruch entlangführte, war im Gegensatz zu den anderen nicht asphaltiert und in denkbar schlechtem Zustand. Er wurde normalerweise nur von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen befahren. Es waren nur wenige hundert Meter vom Waldsaum bis zur Bruchkante. Wir gingen zu Fuß, der Hundeführer und einige Polizisten voraus. Ich hatte das Gefühl, ein Stein läge auf meiner Brust – Angst.
Auf halber Strecke sagte ich: «Das Dorf hat etwa viertausend Einwohner, die Hälfte davon Kinder, ein Viertel Frauen. Es gibt tausend Möglichkeiten. Wenn du Lohberg dazu nimmst, noch etliche mehr.»
«Ich sehe nur eine», sagte Dirk. «Drei Blondinen und eine Dunkelhaarige mit einem großen Rucksack, dasselbe Opferschema wie vor zwei Jahren. Jetzt fehlt uns nur noch eine kleine Dunkelhaarige mit sieben Messerstichen, dann bin ich bereit zu schwören, dass Lukka von den Toten auferstanden ist.» Er lachte kurz. «War nur ein Scherz, mir reichen die vier Frauen und das Ehepaar. Prang und Meier hat er wahrscheinlich beide auf dem Friedhof
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