Lukkas Erbe
er. «Wenn eine Frau so alt geworden ist, dass sie sich alleine nicht mehr versorgen kann, muss man sich darum kümmern, dass sie gut versorgt wird.»
«Und wenn Männer so alt werden?», fragte sie.
Er lachte leise. «Wenn ich so alt werde, hoffe ich, dass du dich um mich kümmerst, kleine Maus.»
«Das tu ich bestimmt», versprach sie, obwohl sie ihn noch nicht ganz einen Tag kannte. Aber seine Art, diese sanfte Stimme, seine Fürsorglichkeit, sein unaufdringliches Lachen und der Hund, alles zusammen schuf eine Vertrauensbasis.
«Wenn wir hier ein Haus haben», fragte sie, «darf ich dann auch mal alleine mit Harras spazieren gehen?»
«Hier darfst du alles», sagte er.
«Auch wenn es dunkel ist?»
«Auch dann», sagte er. «Hier darfst du nachts herumlaufen, wenn du das möchtest. Hier passiert nichts.»
Das klang Miriam noch im Ohr, während der Anwalt den letzten Willen so hastig vorlas, als könne er es nicht schnell genug hinter sich bringen. Der Bungalow ging ebenfalls an sie. Heinz Lukka hatte keine Angehörigen gehabt, nur sie, eine Beinahe-Tochter, die sich nie hatte überwinden können, ihn im Dorf zu besuchen. Sie hätte sich auf der Landstraße auseinander setzen müssen mit der Schuld am Tod ihrer Mutter, mit ihrer Schuld.
Er selbst hatte häufig gesagt: «So gerne ich dich in meiner Nähe habe, kleine Maus, das will ich nicht von dir verlangen. Solch ein schreckliches Erlebnis darf man nicht immer wieder aufwühlen. Man kann es nicht ändern, also muss man versuchen, es zu vergessen, und das geht nur, wenn man den nötigen Abstand hält. Mir macht es nichts aus, nach Köln zu kommen, um dich zu sehen. Im Gegenteil, ich komme gerne, es erinnert mich an die ersten Wochen mit deiner Mutter. Da fühle ich mich jedes Mal um Jahre zurückversetzt.»
Nachdem alles verlesen war, erkundigte sich der Anwalt, ob sie das Erbe annehmen wolle. Sie nickte nur. Zwischen Jakob und Anita Schlösser kam es zu einem kleinen Disput. Bens Vater wollte ablehnen. Nur war er irrtümlicherweise als gesetzlicher Vertreter seines nicht geschäftsfähigen Sohnes vorgeladen worden. Die Vormundschaft hatte Jakob nach Bens Einweisung in die Landesklinik aber an die älteste Tochter abgetreten. Und Frau Doktor Anita Schlösser dachte praktisch. «Denk an Bens Zukunft, Papa.»
Papa, dachte Miriam Wagner und hörte sich fragen: «Wenn du Mami heiratest, darf ich dann Papa zu dir sagen, Heinz?»
«Natürlich darfst du das, kleine Maus.»
«Und was sage ich dann zu dem Holzwurm?»
Er lachte leise. «Holzwurm solltest du ihn nicht nennen.»
«Mami nennt ihn auch immer so.»
«Erwachsene sagen manchmal Dinge, die nicht gut sind, kleine Maus. Er ist dein Vater und darf von dir Respekt erwarten. Wir beide warten mit dem Papa, bis alles seine Ordnung hat, einverstanden? Es dauert nicht mehr lange.»
Es war nie so weit gekommen.
Der Anwalt händigte ihr noch einen persönlichen Brief und die Schlüssel zum Bungalow aus. «Es ist leicht zu finden», sagte er und gab ihr eine Wegbeschreibung. «Sie können es nicht verfehlen. Informieren Sie mich, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Das Haus steht seit Ende August leer. Eine zerbrochene Terrassentür haben wir bereits ersetzt.»
Miriam Wagner hatte immer noch keine Ahnung. Sie dachte bei einer zerbrochenen Terrassentür an spielende Kinder. Jakob und Anita Schlösser verließen die Kanzlei. Sie wollte sich anschließen, Lukkas langjährige Sekretärin hielt sie zurück und zerstörte mit wenigen Sätzen die Illusion der letzten vierzehn Jahre.
Als Miriam hinaus auf den Parkplatz kam, standen Bens Vater und seine älteste Schwester neben einem weißen Peugeot mit Kölner Kennzeichen und verhandelten miteinander. Es schien, als wolle Jakob Schlösser noch ein paar Worte mit ihr wechseln, Anita hielt ihren Vater zurück.
Das sah Miriam Wagner aus den Augenwinkeln, aberes interessierte sie nicht, was diese Leute ihr sagen könnten. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr los, ohne Augen für den Verkehr, ohne einen Gedanken, nur mit dem Wissen, dass der Mann, der beinahe ihr Vater geworden wäre, keines natürlichen Todes gestorben und die Terrassentür nicht von spielenden Kindern zerbrochen worden war. Jetzt begriff sie, warum Heinz Lukka nur ein anonymes Urnengrab auf dem Lohberger Friedhof bekommen hatte.
An dem Tag im Oktober 95 konnte Miriam Wagner die vier Kilometer von Lohberg ins Dorf nicht mehr bewältigen. Es gelang ihr nicht einmal, Heinz Lukkas letzten Brief sofort zu
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