Lukkas Erbe
lesen. Die Stimme der Sekretärin hallte ihr wie ein Echo durch den Kopf. «Die Kriminalpolizei hatte keine Zweifel, dass der schwachsinnige junge Mann nur das Leben seiner Schwester verteidigt hat.»
Es war unvorstellbar, Heinz Lukka, ihre Illusion eines sinnvollen Lebens, schlachtete ein dreizehnjähriges Kind ab und konnte nur von einem Idioten daran gehindert werden, einem zweiten Mädchen das Gleiche anzutun.
Als sie aus Lohberg zurückkam, saß der Holzwurm, den sie immer noch Papa nannte, mit feister, roter Miene über einem Möbelprospekt. Er verschlang eine Pizza, die vermutlich längst kalt war. Seine fettigen Finger hinterließen schmierige Abdrücke auf dem Hochglanzpapier.
Sie hatte bisher keinen Versuch unternommen, eine eigene Wohnung zu nehmen, hegte unterschwellig noch ein wenig Hoffnung, irgendwann einmal zu spüren, dass sie für den Holzwurm mehr war als ein problematisches Geschöpf, das sich nur aus Trotz in seiner Nähe aufhielt.
Immer und immer wieder hatte Heinz Lukka gesagt: «Er ist dein Vater, ich bin sicher, dass er dich liebt, kleine Maus. Er kann es nur nicht zeigen. Aber wenn du es ihm zeigst, irgendwann kommt ein Echo, glaub mir.»
Auf dieses Echo hatte sie bisher vergebens gewartet. Statt liebevoller Worte hörte sie nur ständig, es sei höchste Zeit für sie, sich endlich abzunabeln und auf eigenen Füßen zu stehen. Er wollte sie loswerden und machte nicht einmal einen Hehl daraus.
Als sie hereinkam, hob er kurz den Kopf von seinem Möbelprospekt und erkundigte sich: «Na, was hat’s gegeben? Hat es sich wenigstens gelohnt?»
Dann meinte er, wie nicht anders zu erwarten: «Ein Geschäftshaus und einen Bungalow? Das hört man doch gerne. Dann wirst du sicher bald ausziehen.»
Warum sie ihm überhaupt noch etwas erklärte, wusste sie nicht. Vielleicht nur, um einmal, ein einziges Mal festzustellen, dass er mehr im Kopf hatte als Sägespäne, dass sie mit ihm reden konnte, ein offenes Ohr fand und ein wenig Verständnis.
Er wusste von nichts, hatte keinen Blick in eine Zeitung geworfen, nie etwas von Britta Lässler und Tanja Schlösser in einem Fernsehbericht gehört. Und trotzdem sagte er mit diesem verwunderten Unterton: «Dann hatte deine Mutter doch Recht. Und ich dachte, sie wäre besoffen gewesen. Sie hat mich ja noch angerufen damals, und …»
«Sie war betrunken», schnitt Miriam ihm das Wort ab.
Sie erinnerte sich genau an das Wochenende im März 81, fünf Wochen nach der Verlobungsfeier. Die Übergangswohnung ihrer Mutter in Lohberg war nur provisorisch eingerichtet mit dem Nötigsten, gemütlich war es nicht. Am Freitagabend holte Heinz Lukka sie beide ab. In seinem Wagen fuhren sie ins Dorf, aßen in Ruhpolds Schenke. Ihre Mutter trank zu viel wie üblich. Auf dem Weg von der Schenke zu seiner Wohnung sagte Heinz Lukka noch: «Keine Angst, kleine Maus. Das bekommen wir beide bald in den Griff.»
Der Hund war nicht da. Er hatte ihn für einen Eingriffzum Tierarzt bringen müssen, wollte ihn montags wieder abholen. Damit ihr die Zeit nicht zu lang wurde ohne den treuen Harras, hatte er einen Zeichentrickfilm gekauft. «Für morgen früh», sagte er, als er ihr wie üblich das Bett auf der Couch machte und die Videokassette auf den Tisch legte. «Unser Spaziergang fällt ja aus.»
Er erklärte ihr, wie der Videorecorder zu bedienen war, und ließ anklingen, dass er am nächsten Morgen auch gerne etwas länger schlafen möchte. Sie wachte sehr früh auf und fand mit ihren zwölf Jahren, für Zeichentrickfilme sei sie zu alt. Andere Filme verwahrte Heinz Lukka hoch oben im Wohnzimmerschrank. Sie hatte die Kassetten oft gesehen, wenn er den Schrank öffnete, musste auf einen Stuhl steigen, um sie zu erreichen.
Und dann erwischte sie einen Horrorfilm, einen widerlichen, blutrünstigen Streifen. «Die Nacht der reitenden Leichen» oder «Ein Zombie hing am Glockenseil». Etwas in der Art. Heinz Lukka hatte das später alles erklären können.
Er hatte eine Kultursendung aufzeichnen wollen, die erst in der Nacht ausgestrahlt wurde. Es gab damals noch kein VPS, man durfte nicht darauf vertrauen, dass die Sendungen zur angekündigten Zeit begannen. Er hatte seinen Recorder großzügig programmiert. Und wie es häufig der Fall war, die Sportschau überzog, alle nachfolgenden Sendungen verschoben sich um gut eine halbe Stunde. So war das Ende dieses scheußlichen Filmes auf das Videoband geraten.
Wie sie es geschafft hatte, die Kassette zurück in den Schrank zu
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