Lukkas Erbe
legen und den Stuhl wieder an seinen Platz zu stellen, wusste sie nicht. Sie wusste zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr genau, was sie gesehen hatte, nur, dass es ganz furchtbar gewesen war, grässlich, blutig, grauenhaft.
Ihrer Mutter fiel beim Frühstück auf, dass sie so still war. Heinz Lukka vermutete, dass sie den Hund vermisste. Zum Ausgleich bot er einen Zoobesuch. Am Nachmittag fuhren sie hin. Im Affenhaus war es sehr heiß. Ihr brach immer noch der Schweiß aus, wenn sie nur daran dachte. Ihre Mutter nahm an, dass sie fieberte, und wollte nicht zurück ins Dorf, sondern in die Wohnung nach Lohberg, in die sie gerade erst eingezogen waren.
In der Nacht träumte sie von dem Film. Im Traum vermischten sich die Szenen vom Fernsehbildschirm mit kindlicher Phantasie. Heinz Lukka wurde zur Schreckensgestalt und zwang sie, ihm bei seinen Untaten zuzuschauen. Sie schrie laut, stammelte im Halbschlaf, was sie im Traum durchlebte.
Ihre Mutter weckte sie und begriff nicht, dass es nur ein Traum war. Sie trank bis zum Morgen, rief noch den Holzwurm an, zerrte sie zum Auto. Und dann wurde der Alptraum Wirklichkeit im Lohberger Krankenhaus. Messer in ihrem Leib, blutige Hände, die Nägel in ihr Bein trieben, ihren Körper aufrissen, Organe herausnahmen. Miriam kam es immer noch so vor, als hätte sie die Operationen bei vollem Bewusstsein erlebt, als wäre Heinz Lukka einer der Ärzte gewesen und hätte gesagt: «Das brauchst du nicht mehr.»
Und das für einen billigen Horrorstreifen, von dem er gar nicht wusste, dass er sich in seinem Schrank befand. Er hatte das Band nur am Ende kontrolliert, um festzustellen, ob die Kultursendung komplett aufgezeichnet worden war. Dann hatte er zurückgespult und die Kassette in den Schrank gelegt. «Warum hast du nicht sofort mit mir darüber gesprochen, kleine Maus?», fragte er später.
Weil sie unerlaubt in seinen Schrank gegriffen und nicht erwartet hatte, darin das Grauen zu finden. Weil siebeim Frühstück noch zu schockiert, entsetzt, innerlich wie gelähmt war. Weil sie gedacht hatte, sie könne sich von ihm nie wieder in den Arm nehmen lassen. Weil sich dann bei ihr der Alptraum festsetzte und nicht die Erinnerung an den scheußlichen Film.
Ein Horrorfilm, wie sie Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in Massen gedreht worden waren. Doch keiner davon konnte das Grauen zeigen, das sie nun schüttelte. Heinz Lukka, beinahe ihr Vater, der einzige Mensch, der seit dem Tod ihrer Mutter wirklich für sie da gewesen war, in seitenlangen Briefen ein Leben vor ihr ausbreitete, das sie nicht hatte leben dürfen, der unzählige Male über einen Restauranttisch gegriffen und ihre Hände gehalten hatte – mit seinen Händen hatte er … Das konnte sie nicht zu Ende denken.
Erst Mitte Dezember war sie so weit, dass sie seinen letzten Brief lesen konnte, handgeschrieben wie alle anderen, datiert auf den 15. August 1995. «Nun heißt es Abschied nehmen, kleine Maus. Einige Monate haben die Ärzte mir ohne Behandlung noch gegeben, Krebs. Ich habe die Beschwerden zu lange ignoriert und sehe nicht ein, welchen Sinn es jetzt noch machen sollte, mich unters Messer zu legen. Das bisschen Zeit, das bleibt, nutze ich lieber, um einen lang gehegten Traum zu verwirklichen.»
Im zweiten Absatz hoffte er auf ihr Verständnis. «Es war mir ein großes Bedürfnis, Ben abzusichern. Dass seine Eltern Vorsorge für ihn treffen konnten, bezweifle ich. Gute Heimplätze sind teuer. Und ich will, dass der einzige wirkliche Freund, den ich im Dorf habe, an einem freundlichen Ort untergebracht wird, wenn seine Mutter nicht mehr für ihn sorgen kann. Für dich bleibt genug. Das Geschäftshaus wirft eine monatliche Rendite ab, von der man sehr gut leben kann.»
Im dritten Absatz bat er sie eindringlich, den Bungalownicht zu verkaufen und auch nichts darin zu verändern. «Ich habe mir viel Mühe gegeben, das Haus einzurichten. Jedes Teil ist mit Liebe ausgesucht. Die Vorstellung, dass Dinge, die mir viel bedeutet haben, entfernt werden oder dass Fremde sich dort einnisten, ist mir zuwider. Vielleicht gelingt es dir eines Tages, hinzufahren und es dir anzuschauen. Es wird dir gefallen, da bin ich sicher. Und wenn du Besuch erhältst von meinem Freund Ben, sei nett zu ihm. Er hat es verdient.»
Sie las die Seiten zweimal und begriff es nicht. So schrieb doch kein Mörder. Wenigstens einmal anzuschauen und nichts zu verändern in einem Haus, in dem laut der Kanzleisekretärin zwei Kinder
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