Lukkas Erbe
… Mein Freund Ben. Der Heinz Lukka, den sie gekannt hatte, hätte niemals die jüngste Schwester seines einzigen Freundes angreifen können. Warum denn? Sie wusste nicht, ob sie das wirklich wissen wollte, obwohl sie mit ihrem Studium vielleicht in der Lage gewesen wäre, sein Motiv zu ergründen. Sie hatte auch etliche Vorlesungen in Kriminalpsychologie gehört.
Ende Januar 96, als Trude Schlösser sich noch darum bemühte, ihren Sohn aus der Psychiatrie zu holen, fuhr Miriam Wagner zum ersten Mal los. Den Bungalow erreichte sie nicht, nicht einmal den Ortsrand. Auf halber Strecke musste sie umkehren, weil da dieser Baum war und genau das eintrat, was Heinz Lukka prophezeit hatte. Sie wurde zurückgeschleudert in den alten Horrorfilm, den Alptraum und die letzten Minuten mit ihrer Mutter.
Plötzlich war es, als hätte ihre Mutter während der Fahrt noch Flüche und Verwünschungen ausgestoßen. «Scheißkerle allesamt. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Und da wundere ich mich, dass mir …»
Sie grübelte minutenlang über den Rest des Satzes, aber er war weg, vielleicht nicht zu Ende gesprochen worden, vielleicht nicht wichtig, die Worte einer Volltrunkenen oder ein Gedanke, den der Holzwurm ihr mit seiner Andeutung in den Kopf gesetzt hatte.
Erst als der Fall im März 96 erneut Schlagzeilen machte, der August den Namen Blutsommer bekam und Heinz Lukka von den Medien als Monster tituliert wurde, gelang ihr, was sie nicht für möglich gehalten hatte. Vier Opfer, genau genommen fünf, wenn man Tanja Schlösser dazu zählte.
Die Ungeheuerlichkeit machte den Alleebaum zwischen Lohberg und dem Ortsrand zu einem Orakel, das vielleicht Antwort geben konnte. Sprich mit mir, Mutter! Was hast du gesagt während der Fahrt damals? Worüber hast du dich gewundert? Was ist dir aufgefallen?
Doch diesmal kam nichts. Im Vorbeifahren roch sie nur für einen flüchtigen Moment den alkoholisierten Atem des Mannes, der damals erste Hilfe geleistet hatte, hörte statt ihrer Mutter für zwei Sekunden die raue, gedrängte Männerstimme neben sich: «Schau nicht hin, um Gottes Willen, schau nicht hin.»
Sie konnte nicht hinschauen, konnte den Kopf nicht bewegen, hatte den halben Motorblock im Schoß, das linke Bein und die Hüfte zerschmettert und ein Stück Metall im Gesicht. Die rechte Wange aufgeschlitzt, den Kiefer gebrochen, den Gaumen durchbohrt. Wie festgenagelt saß sie da und dachte, sie müsse sterben, bis es gnädigerweise dunkel wurde. Und wie oft danach hatte sie sich gewünscht, sie wäre gestorben zusammen mit ihrer Mutter und der Hoffnung auf einen Vater wie Heinz Lukka.
Er hatte sie besucht im Lohberger Krankenhaus, einmal, das wusste sie noch, als sei es gestern gewesen. Siesah noch, wie er sich über sie beugte, fühlte seine Hand auf der Stirn, hörte seine sanfte Stimme. «Du musst jetzt sehr tapfer sein, kleine Maus. Die Mami ist tot.»
Das wusste sie schon, einer der Ärzte hatte es gesagt.
«Aber ich bin immer für dich da», sagte er.
Und sie quälte sich mit ihrem gebrochenen Kiefer und dem durchstochenen Gaumen ein Flüstern ab, presste es zwischen Zähnen und Lippen hervor: «Geh weg.» Hatte die blutigen Traumbilder vor Augen, fühlte seine Hand auf der Stirn wie ein Messer. «Geh weg, du bist böse.»
«Warum, kleine Maus, was habe ich getan?»
Darauf hatte sie ihm nicht mehr geantwortet. Er war gegangen, aber er hatte das natürlich nicht auf sich beruhen lassen. Als sie aus dem Lohberger Krankenhaus entlassen werden konnte, holte der Holzwurm sie zu sich – für ganze zwei Wochen. Er suchte schnellstmöglich ein exklusives Internat. Wenn er schon keine Zeit hatte, eine Ehe zu führen, für eine traumatisierte Tochter fehlte die Zeit erst recht. Zu ihren Geburtstagen kam von ihm eine bunte Glückwunschkarte, die einer der Verkäufer aus den Läden geschrieben hatte, sie kannte die Handschrift.
Und Heinz Lukka schrieb Briefe, zuerst einen kurzen, in dem er seinen Besuch im Internat ankündigte. «Wenn du mich nicht mehr sehen willst, werde ich nicht lange bleiben, kleine Maus. Aber du musst mir erklären, warum du plötzlich etwas Schlechtes von mir denkst.»
Bei seinem Besuch hatte er dann alles erklärt, nächtliche Kultursendung, kindliche Phantasie, die keinen Unterschied machte zwischen Traum und Realität, und eine stets alkoholisierte Frau, der das ebenfalls nicht gelang. Danach waren die Tränen geflossen. Alles vorbei – für sie und ihn.
Er hatte nach dem Tod
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