Lukkas Erbe
nicht», flüsterte Katrin. «Schwarz. Die Jacke. Die Ärmel von der Jacke. Mehr hab ich nicht gesehen. Ich dachte, er schneidet mir die Kehle durch, und hab die Augen zugemacht, damit er nicht denkt, ich sehe ihn.»
Ben
In den ersten Wochen nach seiner Heimkehr im März 96 hatte ihn niemand im Dorf zu Gesicht bekommen. Anfangs war er zufrieden, bei seiner Mutter zu sein und sie anschauen zu dürfen. Ein vertrautes Wesen, das nur selten unvorhersehbar reagierte, im Gegensatz zu den vielen, mit denen er sich monatelang hatte auseinander setzen müssen. Ärzte, Pfleger und Patienten, deren Verhaltensweisen ihm noch verwirrender erschienen waren als alles, was er bis dahin erlebt hatte.
Dass er in den Monaten an dem furchtbaren Ort mehr gelernt hatte als in den zweiundzwanzig Jahren zuvor, war ihm nicht bewusst. Er musste all das lernen, was seine Mutter ihm zuvor abgenommen hatte, auch das Denken. Früher hatte er sich nur von seinen Instinkten und Erfahrungen leiten lassen. Nun grübelte er den Ereignissen hinterher und wich nicht von Trudes Seite, hatte Angst, sie könne noch einmal aus seinem Leben verschwinden, wenn er sie allein ließ.
Machte Trude die Betten, stand er am Fenster und schaute nur angespannt über die Felder. Holte sie etwas aus dem Keller, war er dicht hinter ihr. Wenn sie in der Küche zu tun hatte, saß er am Tisch und warf Blicke zum Fenster hinüber. Bei seiner Größe konnte er auf den Hof schauen, auch wenn er auf der Eckbank saß.
Seine Unruhe wuchs von Tag zu Tag, er saß da wie zum Sprung bereit. Immer wieder fragte er: «Fein?» Dann erzählte Trude ihm, dass es seiner jüngsten Schwester gut ginge – was gar nicht der Fall war –, und dass er Tanja vielleicht bald einmal sehen dürfe.
Bruno Kleu wollte ein Treffen arrangieren, meinte wie Trude, es sei wichtig für Ben, seine Schwester wieder zu sehen und zu erkennen, dass er richtig gehandelt hatte,als er in Lukkas Bungalow eindrang und dem Anwalt das Genick brach.
«Sonst muss er ja glauben, er wäre eingesperrt worden, weil er Tanja das Leben gerettet und den Scheißkerl zur Strecke gebracht hat», sagte Bruno, betonte aber auch jedes Mal: «Wir warten bis nach Marlenes Beerdigung. Lass sie erst mal zur Ruhe kommen, Trude. Dann kann man vielleicht eher mit ihnen reden.»
Bruno war oft auf dem Lässler-Hof, weil er immer noch einen Großteil der Feldarbeit erledigte – und weil Maria ihren Mann nach dem Leichenfund verlassen hatte, sie lebte jetzt bei Bruder und Schwägerin. Bruno besuchte sie jeden Abend, ein Geheimnis machten sie nicht mehr um ihre langjährige Beziehung. Und Paul Lässler machte kein Geheimnis um seinen Gemütszustand. Seit er wusste, dass Ben wieder zu Hause war, hatte Paul schon mehr als einmal gesagt: «Wenn er hier auftaucht, kann Jakob einen großen Sarg bestellen.»
Dass Trude einmal mit Ben hinging, war völlig ausgeschlossen. Seit Anfang März ging Tanja wieder zur Schule. Sie besuchte das Gymnasium in Lohberg, saß noch einmal in der Klasse, die sie im vergangenen Jahr gerade abgeschlossen hatte. Aber sie fuhr nicht mehr mit dem Bus oder dem Rad. Morgens brachte Paul Lässler sie hin, mittags holte er sie wieder ab. Das machte es schwierig.
Bruno sagte: «Denk lieber nicht daran, dich Pauls Auto in den Weg zu stellen, Trude. Er fährt euch beide über den Haufen.»
Es schien auch, dass Tanja ihren Bruder nicht sehen wollte. Im Januar hatte sie noch gebettelt, als Jakob einen Besuch auf dem Lässler-Hof riskierte. «Bitte, Papa, nimm mich mit, wenn ihr Ben besucht. Ich muss mich doch bei ihm bedanken. Wenn er nicht gekommen wäre.» Davon war nicht mehr die Rede.
Paul und Antonia Lässler hatten großen Einfluss auf Tanja, was nicht weiter verwunderte, beide waren sie Bens jüngster Schwester immer näher gewesen als die eigenen Eltern. Und nach dem furchtbaren Erlebnis – sieben Messerstiche –, auch wenn Tanja daran keine Erinnerung hatte, den langen Klinikaufenthalt würde sie nie vergessen, ebenso wenig, dass sie zeit ihres Lebens gesundheitlich beeinträchtigt bleiben und Britta, die Freundin und Fastschwester, mit der sie aufgewachsen war, niemals wieder sehen würde.
Mit diesen Argumenten fiel es nicht schwer, Tanja davon zu überzeugen, dass Brittas Tod zum größten Teil Bens Verschulden war. Er war bei ihr gewesen an jenem Sonntagabend im August, als sie Lukka in die Arme lief. Da hätte er Lukka das Genick brechen müssen, nicht erst zwei Tage später.
«Lass ihn um Gottes
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