Lukkas Erbe
nachzog. Und ihr Gesicht, sie brauchte täglich eine halbe Stunde, um die aufgeschlitzte Wange zu modellieren und mit Make-up zu überdecken.
Optische Täuschungen, eine kindlich wirkende, knabenhaft schlanke junge Frau und ein schmächtiger alter Mann, Frankensteins Braut und ein Massenmörder.
2 . August 1997
Als der Blutsommer sich das zweite Mal jährte, dachten im Dorf nicht mehr viele Leute an Heinz Lukka. Die junge Frau, die seit März 96 im Bungalow wohnte, hatteman eine Weile misstrauisch beäugt und eine Gänsehaut bekommen beim Gedanken an ihre Nächte. Inzwischen hatte man sich an Miriam Wagner gewöhnt, bekam sie nur selten zu Gesicht. Nur wenige wussten von ihren Aktivitäten und den Bemühungen, das Entsetzliche zu begreifen und hinter sich zu lassen. Mehr hatte sie zu Anfang nicht gewollt. Dass sie damit ihren Teil zur Wiederholung beitrug, konnte niemand ahnen.
Zwei Jahre nach den entsetzlichen Morden wusste nur Rita Meier, dass wieder junge Frauen und Mädchen in Gefahr waren. Wie groß die Gefahr war, auch für sie, ahnte sie nicht. Zur Lohberger Diskothek fuhr sie nicht mehr, blieb abends zu Hause, hielt Türen und Fenster geschlossen und sah nicht, wer sich nachts in der Nähe ihres Hauses aufhielt.
Sie bemerkte auch nicht, dass der Mann sie nur wenige Tage nach der Vergewaltigung wieder sah. Es war ein Zufall. Rita Meier brachte noch spät Blumen auf das Grab ihrer Schwiegereltern. Der Mann hielt sich ebenfalls auf dem Friedhof auf. Er war oft dort. Und im Gegensatz zu Rita Meier, die von ihm kaum mehr gesehen hatte als einen schwarzen Schatten, hatte er sie längere Zeit beobachtet und war vertraut mit ihren Gesichtszügen.
Zuerst hatte er Angst, dass sie ihn ebenfalls erkannte. Sie sortierte die Blumen in der Vase, richtete sich auf, schaute in seine Richtung. Er meinte, dass sie ihn nachdenklich betrachtete. Als sie den Friedhof verließ, folgte er ihr in gebührender Entfernung und fand heraus, wo sie wohnte, in einem der Reihenhäuser am Lerchenweg.
Der Lerchenweg war ein großes Gebiet, das sich in unzählige kleine Stichstraßen zersplitterte, viele waren nur schmale Gehwege, in denen sofort auffallen musste, wer nicht dort wohnte. Auf den Gartenseiten war es ungefährlicher, dort gingen oft Hundebesitzer und Spaziergänger.Und von dort waren die Wohnzimmer gut einsehbar. Einige Abende hintereinander beobachtete er Rita Meier, stellte fest, dass sie meist allein war. Zum Wochenende kam ihr Mann nach Hause.
An diesem Wochenende war in Ruhpolds Schenke eine Menge los. Außer der fest angestellten Kellnerin war noch eine Aushilfe beschäftigt, Katrin Terjung. Beide Frauen hatten am Samstagabend alle Hände voll zu tun. Kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger, und Katrin Terjung nutzte die Gelegenheit, mit einem der Gäste zu flirten. Sie war erst neunzehn Jahre alt, hatte einen festen Freund, aber er war zurzeit bei der Bundeswehr.
Der Gast am Tresen hieß Manfred Konz und war verheiratet. Seine Frau hatte in der Woche das erste Kind bekommen und lag im Lohberger Krankenhaus. Am Nachmittag hatte Manfred sie noch besucht und seinen Sohn im Arm gehalten, anschließend war ihm die Lust auf eine einsame Nacht in einem verlassenen Haus vergangen. Es waren vorher schon so viele, nicht einsame, aber enthaltsame Nächte gewesen. Und davon sollten noch etliche folgen.
Bis die Schenke um eins geschlossen wurde, hielt Manfred aus, trank ein paar Bier mehr als üblich und bemühte sich um Katrin Terjung. Sie war hübsch und nicht abgeneigt, seine derzeitige Situation für eine Stunde zu teilen, ihr erging es ja ähnlich. Als Manfred ihr ein großzügiges Trinkgeld gab und fragte: «Was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?», lachte sie.
«Was du machst, weiß ich nicht. Ich hatte vor, die Füße hochzulegen.»
Das klang doppeldeutig, fand Manfred Konz und wagte einen Vorstoß. Er bot ihr seine Schultern an, um die Füße hochzulegen. Katrin schaute sich verstohlen um, ob jemand mitgehört hatte. Dann nickte sie und forderte ihn auf, draußen zu warten. Sie musste noch mit demWirt abrechnen und wollte nicht, dass ihre Verabredung sich herumsprach und ihrem Freund zu Ohren kam.
Es dauerte nicht einmal eine Viertelstunde, bis sie ebenfalls ins Freie trat. Am Straßenrand stand ihr Auto.
Manfred schaute sich aufmerksam um, ehe er einstieg. Es war niemand in unmittelbarer Nähe, aber selbst wenn jemand beobachtet hätte, dass er zu Katrin ins Auto stieg, es gab eine harmlose Erklärung:
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