Lukkas Erbe
er mit Bruno unterwegs war, darauf ließ er sich nicht ein. Und dass sein Vater daheim blieb und ein wachsames Auge auf die Mutter habe, zu dieser Erklärung schüttelte er nur den Kopf. Bruno selbst hatte ihm einmal zu oft gesagt, sein Vater sei dumm. Und Ben wusste genau, was das bedeutete.
Er war längst nicht so dumm, wie allgemein angenommen wurde. Wie er mit dem Handy umgehen musste und dass er damit jederzeit Bruno rufen konnte, wenn mit seiner Mutter etwas nicht in Ordnung war, begriff er schnell. Es kam nur einmal zu einer kleinen Panne.
In der Woche nach Marlene Jensens Beerdigung bekam Trude Besuch von ihrer Anwältin. Sie kam immer hinaus auf den Hof, damit Trude mit ihrer angeschlagenen Gesundheitnicht die Fahrt nach Köln auf sich nehmen musste. Seit Ben wieder zu Hause war, hätte sich das ohnehin nur noch schwer einrichten lassen.
An dem Tag schlug die Anwältin vor, Trude sollte ein ärztliches Attest beibringen, um dem Untersuchungsrichter zu belegen, dass sie nicht verhandlungsfähig war und aus gesundheitlichen Gründen auch keine Haftstrafe antreten konnte.
«Heißt das, ich muss nicht ins Gefängnis, wenn ich so eine Bescheinigung habe?», fragte Trude.
«Genau das heißt es», erklärte die Anwältin. «Wir haben sogar gute Aussichten, dass der Untersuchungsrichter das Verfahren einstellt und es bei einer Geldbuße belässt. Der Fall hat für sehr großes Aufsehen gesorgt. Niemand ist daran interessiert, die Sache noch einmal hochzupuschen.»
Trude begann vor Erleichterung zu weinen. Und im nächsten Moment stand Ben, der bis dahin still auf der Eckbank gesessen hatte, zwischen ihr und der Anwältin. Zwei Meter Muskeln und Sehnen, ein lebender Schutzwall für seine Mutter.
«Finger weg», sagte er in einem drohenden Ton, den Trude noch nie von ihm gehört hatte.
«Schon gut, Ben», schluchzte Trude. «Es ist alles in Ordnung. Sei lieb und setz dich wieder hin.»
Er dachte nicht daran. Als die Anwältin ihn unwillig aufforderte, zu tun, was seine Mutter verlangte, stieß er sie mit einer Hand an ihrer Schulter zurück, drängte sie in die Ecke neben dem Herd, griff zum Handy und teilte Bruno Kleu mit: «Fein weh.»
Bruno grinste, als er die junge Frau aus ihrer misslichen Lage befreite. Er meinte, Ben hätte verstanden, was er ihm beigebracht hatte, er hätte sogar gelernt, eine Situation einzuschätzen und die Abwehrmittel entsprechendanzupassen. Er klopfte ihm auf die Schulter und sagte: «Das war sehr gut, Kumpel.»
Trudes Anwältin war weniger begeistert. Und Trude war sehr besorgt. Dieser drohende Ton und seine Haltung, seine Miene, verschlossen, grüblerisch, immer diese innere Unruhe, die Blicke zum Fenster. Das Weiche, Sanfte, bei dem ihr früher immer so warm ums Herz geworden war, suchte sie in seinem Gesicht vergebens.
Es fiel ihr unendlich schwer, sich das einzugestehen, aber ihr guter Ben, ihr Bester, der wieselflinke Riese mit den Augen einer Eule, dem Gedächtnis eines Elefanten und dem Verstand einer Mücke existierte nicht mehr. Den guten Ben hatte Jakob in Lukkas Bungalow erschlagen. Wer stattdessen aus der Anstalt zurückgekommen war und was Bruno aus ihm machte, musste sich erst noch zeigen.
Äußerlich sah er fast wieder so aus wie früher. Das Haar stand ihm nicht mehr in Stoppeln um den Kopf herum, im Gesicht hatte sich das durch die Medikamente verursachte Schwammige schon fast wieder verloren, und der Ansatz von Fett am Körper war dank Brunos Training in der Scheune ebenfalls wieder verschwunden. Blass war er, an den Händen fiel es Trude besonders auf, weil sie immer sauber waren. Er wusch sie sich jetzt selbst.
Wenn er vom Klo kam oder sah, dass sie einen Teller auf den Tisch stellte, ging er zum Spülbecken. Und die Nägel schnitt er sich mit einem kleinen Knipser, den er von einem Pfleger bekommen hatte. Alleine duschen und rasieren hatte er ebenfalls gelernt.
Letzteres wäre eigentlich nicht nötig gewesen, er hatte nur einen sehr schwachen Bartwuchs, ein bisschen Flaum. Früher war Jakob ihm ab und zu mit seinem Elektrorasiererdurchs Gesicht gefahren. Jetzt stand er jeden Morgen vor dem Spiegel im Bad, strich mit diesem summenden Ding über sein Kinn, die Wangen, spannte die Oberlippe, vergaß auch nicht die Stellen unter dem Kinn und am Hals. Anschließend prüfte er mit dem Handrücken, ob alles glatt war.
Trude traute ihren Augen nicht, als sie es zum ersten Mal sah. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen oder darüber weinen sollte. Wie oft war
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