Lukkas Erbe
97, sollte sie zum Telefon greifen und mich um ein Gespräch unter vier Augen bitten mit der Absicht, mir von dem schwarzen Mann im Bendchen, von Svenja Krahl, Katrin Terjung und zwei vermissten jungen Frauen zu erzählen, ohne zu ahnen, dass sie mit ihrem Anruf Todesurteile sprach. Aber ich will nicht vorgreifen …
Nicole Rehbach war ein dicker Knoten im Beziehungsgeflecht des Dorfes. Zu ihrem Freundeskreis gehörten Sabine und Andreas Lässler, der seine jüngste Schwester Britta und seine Cousine Marlene Jensen verloren hatte, sowie Uwe und Bärbel von Burg, die zweitälteste Schwester von Ben, die ihm eine Nacht voller Angst und Schmerzen im Sandpütz beschert hatte. Ein Polizeibeamter der Lohberger Wache gehörte ebenfalls zu Nicoles Bekannten: Walter Hambloch.
Er war sowohl in Lukkas Bungalow als auch an den nur fünfhundert Meter entfernt liegenden Fundstellen der Leichen gewesen, kannte alle wesentlichen Details des Blutsommers. Walter Hambloch war noch ledig, hatte seine Mutter früh verloren und lebte seitdem allein mit seinem Vater in der Reihenhaussiedlung am Lerchenweg.
Viel Glück hatte Nicole Rehbach bis zu dem Zusammenstoß mit dem Jaguar nicht gehabt. Sie war eines jener bedauernswerten Geschöpfe, die nur der Zufall am Leben gelassen hat. Gefunden an einem nasskalten Oktobertag 1969 unter einem parkenden Auto, eingewickelt in ein schmutziges Tuch, stark unterkühlt, schätzungsweise drei Tage alt.
Es war der Polizei nie gelungen, ihre Mutter ausfindig zu machen, vom Vater ganz zu schweigen. Einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend hatte Nicole in Heimen verbracht. Mehrfach war sie für kurze Zeit bei Pflegefamilien untergekommen, es hatte nie funktioniert. Das erste Ehepaar brachte sie im Alter von sechs Monaten zurück ins Heim, weil sich unerwartet ein eigenes Kind angekündigt hatte. Bei der zweiten Vermittlung war sie vier und zu oft krank. Mit zwölf Jahren holte das Jugendamt sie aus einer Familie, in der sie nur als Haushaltshilfe missbraucht und regelmäßig mit einem Gürtel verprügelt worden war für Putzstreifen auf den Fenstern und Bügelkniffe in Hemdrücken.
Den widrigen Umständen zum Trotz hatte Nicole sich zu einer sehr attraktiven Frau entwickelt. Sie war nicht hübsch, sie war das, was man eine klassische Schönheit nennt, ein Typ wie Heinz Lukkas unerfüllte Liebe Maria Jensen oder ihre Tochter Marlene und Miriam Wagners Mutter.
Freunde, die diese Bezeichnung verdienten, hatte Nicole allerdings erst gefunden, als sie ihren Mann kennen lernte.
Zum ersten Mal gesehen hatte sie Hartmut Rehbach am Sterbebett seiner Großmutter. Nicole arbeitete als Altenpflegerin im Seniorenheim in Lohberg. Hartmut Rehbach verbrachte viel Zeit bei der alten Frau, sprach mit ihr, hielt ihre Hand bis zum letzten Atemzug. Jedes Mal,wenn sie ihn so sitzen sah, dachte Nicole, dass sie eines Tages genauso sterben möchte, einen Mann neben sich, der Jugendstreiche oder sonst etwas erzählte, ihre Hand hielt und einfach da war.
Nach dem Tod von Hartmuts Großmutter kamen sie sich rasch näher. Hartmut war nur vier Monate älter als sie und hatte bis dahin nie lange eine Freundin. Von seiner Seite aus war es die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Schon nach kurzer Zeit zog er zu Nicole nach Lohberg, weil sie sich weigerte, ihre kleine Wohnung aufzugeben. Bei aller Sympathie für seine Eltern und seine sehr viel jüngere Schwester Patrizia war Nicole nicht bereit, ihren eigenen Haushalt gegen ein Zimmer in Hartmuts Elternhaus zu tauschen. Aber Hartmut wollte nicht auf Dauer in Lohberg leben.
Er war im Dorf geboren und aufgewachsen wie alle seine Freunde. Seine Eltern besaßen ein Haus an der Bachstraße mit einem großen Garten, der sich bis zu dem breiten Feldweg zog. «Da ist Platz genug», sagte er oft.
Nach der Hochzeit wollte er sich sofort um eine Baugenehmigung kümmern. Geheiratet hatten sie im Februar 95. Statt eine Hochzeitsreise zu machen, erfüllte Hartmut Rehbach sich einen lang gehegten Traum: eine Harley Davidson. Den Motorradführerschein besaß er seit Jahren, hatte jedoch seit der Prüfung nicht mehr auf einer Maschine gesessen. Drei Wochen nach der Hochzeit holte er die Harley beim Händler ab und wollte sie umgehend seinen Eltern und Freunden im Dorf vorführen.
Die Landstraße war nicht ungefährlich, leicht gewunden, von alten Alleebäumen gesäumt. Es hatte schon mehr als einen Unfall mit Todesfolge gegeben, deshalb war eine Höchstgeschwindigkeit von siebzig
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