Lukkas Erbe
kommt immer aus dem Mais, spielt gerne verstecken. Meist sehe ich ihn erst, wenn er direkt vor der Tür steht. Aber er kommt nicht immer heran. In manchen Nächten frage ich mich, ob tatsächlich er da draußen ist oder irgendeiner, der nur feststellen will, was bei mir zu holen ist.»
In der nächsten Nacht war der schwarze Fleck wieder da und etwas näher. Nahe genug, um eine Gestalt zu erkennen. Der Himmel war relativ klar. An einen Einbrecher dachte sie nicht. Wer etwas stehlen wollte, hatte Zeitgenug gehabt, es zu tun in den langen Monaten, in denen der Bungalow unbewohnt gewesen war. Sie machte Licht im Wohnzimmer, damit er sie sah und näher kam. Das tat er nicht, und das bestärkte sie in der Annahme, dass es sich nur um Ben handeln konnte.
«Dankbar für jedes gute Wort», hatte Heinz Lukka geschrieben. Sie ging hinaus auf die Terrasse, lockte und schmeichelte. Ohne Erfolg. Vielleicht war ihre Stimme zu belegt, um einen echt wirkenden Klang zu erzeugen.
Süßigkeiten, in einem Brief stand auch etwas darüber. Am nächsten Vormittag fuhr sie nach Lohberg und kaufte ein Sortiment Schokoladenriegel. Sie fühlte sich wie ein Kammerjäger, als sie am Abend drei Riegel auf die Terrasse legte. Da lagen sie auch am Morgen noch. Aber er war da gewesen. Diesmal hatte sie ihn richtig gesehen, einen schwarzen Schatten in der Dunkelheit, nur etwa zehn Meter von der Terrasse entfernt. Sie hatte in Lohberg auch ein Nachtglas besorgt, leider war es nicht von bester Qualität. Sein Gesicht war ein verschwommener Fleck geblieben. Nur seine Gestalt war gut zu erkennen gewesen, groß und kräftig, ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Am 24. April 96, genau fünf Wochen nach Bens Heimkehr, ließ Miriam Wagner über Nacht beide Terrassentüren geöffnet. Es war noch viel zu kühl. Zwei Nächte lang fror sie in einem Sessel, obwohl sie eine dicke Wolldecke um Schultern und Beine gewickelt hatte. In der Nacht zum Freitag schlief sie vor Erschöpfung ein, wachte um halb sechs in der Früh auf, gerade als die Terrassentüren geschlossen wurden – von außen.
Sie sah eben noch eine Gestalt um die Hausecke verschwinden, rannte in die Diele, hetzte zur Haustür hinaus, so schnell es mit ihrer Behinderung möglich war. Und da stand er – zwei Meter von ihrem Wagen entferntbei der Garageneinfahrt. In der Dunkelheit war sein Gesichtsausdruck nicht zu erkennen, nur seine angespannte, geduckte Haltung.
«Keine Angst», sagte sie so sanft und weich, wie sie vielleicht einmal als kleines Kind mit einer Puppe gesprochen hatte. Mit einer Hand hielt sie die Decke um die Schultern fest. Es nieselte und war ekelhaft kalt. Die andere Hand streckte sie aus, um ihre Harmlosigkeit zu demonstrieren. Bei Hunden tat man das auch, ließ sie schnüffeln, damit sie sich an den Geruch gewöhnten.
«Ich habe Schokolade im Haus», sagte sie. «Du magst doch Schokolade. Lukka hat dir immer etwas Süßes gegeben, weißt du noch? Er war dein Freund. Er mochte dich gerne. Er mochte dich so gerne, dass er dich zu einem reichen Mann gemacht hat. Weißt du das überhaupt? Ich schätze, du weißt es nicht. Einem wie dir werden sie bestimmt nichts über Aktien erzählen.»
Während sie sprach, ging sie langsam mit der ausgestreckten Hand auf ihn zu. Er wich zurück. Auf dem Weg näherte sich ein Scheinwerferpaar, sie achtete nicht darauf. «Lauf nicht weg», bat sie und ärgerte sich, dass sie keinen Schokoladenriegel mit hinausgenommen hatte. «Ich will nur mit dir reden. Gehen wir ins Haus, da ist es wärmer und trocken.»
Er machte einen Schritt zur Seite, als sie ihn beinahe erreicht hatte, trat mitten in den Weg hinein, direkt vor das Auto. Es war ein älterer Opel, er wurde heftig abgebremst, brach aus der Spur und prallte gegen ihren Jaguar. Es schepperte heftig, er zuckte erschreckt zusammen. «Keine Angst», sagte sie noch einmal hastig. «Es ist nur Blech.»
Aus dem Opel stieg eine Frau, die Miriam vorübergehend aus der Fassung brachte. Sie mochten etwa im selben Alter sein, aber das war auch das Einzige, was beideFrauen gemeinsam hatten. Perfekte Figur, hellblondes, schulterlanges Haar, ein makelloses Gesicht. So ungefähr hatte Miriams Mutter ausgesehen, ehe sie zu trinken begann. Es war wie eine Erscheinung aus der Vergangenheit, fast erwartete sie, in die Arme genommen und getröstet zu werden.
Die Zeugin
Die Frau, die an diesem Morgen im April 96 aus ihrem Auto stieg, hieß Nicole Rehbach. Achtzehn Monate später, im Oktober
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