Lukkas Erbe
hörte sie noch.
Im zweiten Schrank standen Bücher; Bildbände, Biographien von Politikern und anderen Persönlichkeiten sowie Heftmappen mit privaten Unterlagen. Es gab einige Lücken, in die wohl die Schriftstücke gehörten, die nun auf dem Dachboden lagen.
Es kostete sie große Überwindung, den Karton wieder herunterzuholen, die Papiere durchzusehen und die Videokassetten zu kontrollieren. Obwohl der Verstand ihr sagte, dass darauf nichts Verräterisches sein könne, sonst hätte die Polizei die Bänder kaum zurückgebracht, hatte sie Herzklopfen, als sie die erste Kassette in den Recorder schob und das Gerät einschaltete.
Sie hielt den Atem an und spürte eine warme Welle der Erleichterung durch den gesamten Körper fluten: Eine Opernaufführung. Auf dem zweiten Band war eine politische Diskussion festgehalten, auf dem dritten ein Konzert, auf dem vierten und fünften Urlaubsreisen, Thailand, buntes Treiben, fremdländische Kultur, ein Markt, eine Garküche am Straßenrand, ein Tempel und andere Bauwerke, mehr sah sie nicht.
Sie stellte die Kassetten zu den Büchern, ordnete die Schriftstücke ein, schaute noch einmal alles gründlich durch. Nirgendwo fand sich einer der unzähligen Briefe, die sie ihm geschrieben hatte. Sie war immer überzeugt gewesen, er hätte sie aufgehoben. Das war wohl ein Irrtum.
Es war eine bittere Erkenntnis, passte überhaupt nicht zu dem Mann, den sie vierzehn Jahre lang verehrt hatte.Ein Mann, der mit seinen Bemühungen um eine Partnerschaft zweimal gescheitert war und danach erkannt hatte, dass er schon zu alt war, um sein Leben den Bedürfnissen einer Partnerin anzupassen. So hatte er es einmal ausgedrückt. «Man entwickelt mit der Zeit liebe Gewohnheiten, von denen man nur ungern wieder lassen würde. Die Erfahrung wirst du auch noch machen, kleine Maus. Und wenn man erst so weit ist, bleibt man besser allein.»
Nun fragte sie sich, welche lieben Gewohnheiten er entwickelt und welche Träume er wohl lange gehegt haben mochte. Mit dieser Frage konnte sie nicht in seinem Bett liegen. Die Nächte verbrachte sie im Wohnzimmer, lag auf der Couch oder saß in einem Sessel. Und achthundert Meter weiter hingen die gelben Vierecke in der Nacht. Erleuchtete Fenster am Lässler-Hof. Ganze achthundert Meter vom Elternhaus entfernt – war Britta nur dreizehn Jahre alt geworden. Und Marias Tochter, Brittas vier Jahre ältere Cousine, war genauso hübsch wie ihre Mutter in jungen Jahren.
Manchmal fragte Miriam sich, was die Familie Lässler empfinden mochte, wenn sie ein erleuchtetes Fenster am Bungalow sahen. Dann hätte sie gerne mit Einbruch der Dunkelheit die Läden geschlossen. Das war leider nicht möglich. Der Bungalow war mit rustikalen Holzläden ausgestattet. Sie waren mit Eisenklemmen am Mauerwerk befestigt. Die Klemmen waren verrostet, fest mit den Zapfen an den Läden verschmolzen. Wahrscheinlich brachen sie, wenn sie gelöst wurden, dann wären die Läden bei jedem Windzug hin und her geschlagen. Natürlich hätte sie einen Handwerker beauftragen können, die rostigen Teile zu ersetzen, daran dachte sie nicht.
Und manchmal spielte sie mit dem Gedanken, zum Schlösser-Hof zu fahren und dem Mann gegenüberzutreten,der einen Mörder getötet hatte. Ben die Hand schütteln. Aber sie wusste nicht genau, warum sie das gerne getan hätte. Weil er eine grauenhafte Mordserie beendet – oder weil er Heinz Lukka ein qualvolles Sterben erspart hatte? Sie wusste auch nicht, wie sie bei seinem Anblick reagieren würde. Eine Begegnung ohne Zeugen wäre ihr lieber gewesen. Und wie es schien, ließ sich das arrangieren.
Schon in der zweiten Aprilwoche 96 registrierte sie um vier Uhr morgens eine Bewegung draußen. Sie saß im dunklen Wohnzimmer in einem Sessel. Aber es war zu schwarz vor den Glastüren, ein wolkenverhangener Himmel, keine Beleuchtung auf den Feldwegen, keine Chance zu erkennen, was sich bewegte. Es konnte der Wind sein, der über den verrotteten Mais strich.
In der darauf folgenden Nacht war sie sicher, einen schwarzen Fleck in der Dunkelheit auszumachen. Etwa zwanzig Meter von der Terrasse entfernt, mitten im Maisfeld, völlig reglos. Sie starrte so lange und angestrengt in die Dunkelheit, bis ihr der Fleck vor den Augen verschwamm. Und in einem von Heinz Lukkas Briefen stand, dass Ben nachts unterwegs war, speziell in den Nächten.
«Er lässt sich nicht festhalten, da kann seine Mutter ihm goldene Berge versprechen. Plötzlich taucht er auf der Terrasse auf. Er
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