Lukkas Erbe
Stundenkilometern vorgeschrieben. Als er die Autos vor sich überholen wollte, sah er zu spät, dass ihm ein Wagen entgegenkam.Er wich noch aus und verlor dabei die Kontrolle über die Harley. Dass er den Sturz überlebte, bezeichneten die Ärzte als ein Wunder. Sein rechter Arm blieb steif, den rechten Unterschenkel mussten die Ärzte amputieren. Und das war nicht das Schlimmste. Hartmut Rehbach verlor seine Männlichkeit.
Es hatte nach dem Unfall einige Monate gegeben, in denen Nicole nicht wusste, wie sie weiterleben sollte mit einem Mann, der kein Mann mehr war. Sie wollte unbedingt Kinder, wollte ihnen all das geben, was sie nicht bekommen hatte. Aber sie liebte Hartmut, er war nicht nur ihr Mann, er war ihre Familie. Ihn verlassen, das hätte sie nicht geschafft, wo er bei jedem Besuch im Krankenhaus ihre Hand umklammerte und weinte: «Lass mich nicht allein, Nicole, bitte, lass mich nicht allein. Ich liebe dich. Wir finden eine Lösung, wir finden bestimmt eine.»
Sie hatten mehr als eine Lösung finden müssen. Die kleine Wohnung in Lohberg aufgeben, drei Treppen, kein Aufzug, das konnte Hartmut unmöglich bewältigen. Monatelang war er an den Rollstuhl gefesselt. Ihm eine Prothese anzupassen war unmöglich in der ersten Zeit. Der Beinstumpf entzündete sich immer wieder. Die Ärzte fanden keine Erklärung, hielten es für psychisch bedingt, die Angst, verlassen zu werden.
Vorübergehend kamen sie in seinem Elternhaus unter, dort hüpfte Hartmut mit Krücken von einem Zimmer ins andere, sogar das war mit dem steifen Arm schwierig. Nicole fühlte sich zeitweise wie erschlagen. Im Garten wurde eilends ein kleiner Anbau für sie errichtet, nicht größer als die Wohnung, die sie in Lohberg aufgegeben hatten, Wohnzimmer, Schlafzimmer, eine winzige Küche und ein Duschbad. Für ein Haus reichte das Geld nicht mehr. Hartmut Rehbach verlor auch noch seinen Job, nicht aber seine Frau und seine Freunde.
Mit Andreas Lässler und Walter Hambloch war er schon seit der Grundschule befreundet. Sie waren alle Jahrgang 69. Uwe von Burg war vier Jahre älter und lange Zeit das große Vorbild gewesen mit dem Mofa, das er als Jugendlicher fuhr, und wegen der Mädchen, die er immer hatte. Jeden Sonntag eine andere, bis er an Bärbel Schlösser hängen blieb, was speziell Walter Hambloch überhaupt nicht verstand. Ausgerechnet Bärbel mit dem verrückten Bruder und mit ihrem losen Mundwerk fing den Mann ein, der ihnen vorgelebt hatte, wie man sich richtig amüsierte. Auch gegen Sabine Lässler hatte er Einwände. Als dann noch Nicole dazukam, hatte Walter Hambloch düster prophezeit, sie sei keine Frau zum Heiraten, eine wie sie hätte ein Mann nie für sich allein. Er hatte einige Register gezogen, um die Verbindung wieder auseinander zu bringen. Als ihm das nicht gelang, hatte er vermutet, jetzt sei es wohl vorbei mit der guten Freundschaft zu Hartmut. Das war nicht der Fall gewesen. Nicole interessierte es nicht, wie Walter Hambloch über sie oder die anderen Frauen dachte. Die anderen mochten sie, und auch er revidierte seine Meinung irgendwann.
Nach Hartmuts Unfall zeigte sich, welchen Wert richtige Freunde hatten. Andreas Lässler stellte aus dem Baumarkt seines Schwiegervaters das komplette Material für den Innenausbau der Wohnung zum Selbstkostenpreis zur Verfügung und verbrachte zusammen mit Uwe von Burg jede freie Minute mit Installationsarbeiten, Tapezieren, Bödenverlegen, Deckenverkleiden und was sonst noch zu tun war.
Walter Hambloch half ebenfalls nach Kräften, aber er war handwerklich nicht so geschickt, sagte nur tausendmal: «Du darfst alles tun, Nicole, aber du darfst Hartmut nicht im Stich lassen, das überlebt er nicht. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, ein Wort genügt. Und wenn esetwas ist, womit du Hartmut das Herz nicht schwer machen willst, ich kann schweigen.»
Der August 95 hatte Nicole von ihren eigenen Nöten abgelenkt. Zuerst verschwand Marlene Jensen, die Freundin von Hartmuts Schwester Patrizia.
Dann starb Britta Lässler, deren Tod Nicole hätte verhindern können. An jenem Sonntag im August 95 hatte sie Hartmut im Rollstuhl spazieren gefahren und Britta noch gesehen – zusammen mit Ben und Heinz Lukka. Nicole war völlig fremd im Dorf und wusste nicht, wen sie vor sich hatte.
Andreas Lässler hatte manchmal von seiner jüngsten Schwester gesprochen, jedoch nie ein Foto gezeigt. Und Bärbel hatte ihren schwachsinnigen Bruder nie erwähnt.
Seitdem wunderte sich Nicole, dass die
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