Lukkas Erbe
Schwester zu zeigen? Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, so etwas zu sagen.
2. September 1997
Der Mann sah sie kommen. Er stand verborgen hinter den Brombeersträuchern nahe dem Wegrand. Die breite Bresche, die die Motorsäge im März 96 zum Birnbaum geschlagen hatte, war fast wieder völlig zugewachsen. Ein schmaler Trampelpfad war noch übrig und bezeugte, dass die Fundstelle der Opfer häufig besucht wurde. Manchmal lag ein Blumenstrauß auf der nackten Erde beim Birnbaum.
Nicole wusste, wer dort Blumen ablegte. Sie wusste eine Menge. Doch an dem Abend dachte sie nicht darübernach, war nur mit sich selbst beschäftigt. Im Vorbeigehen sah sie eine Bewegung weit hinten im Gebüsch, als der Mann sich zurückzog. Sie dachte, es sei Bruno Kleu. Normalerweise stand zwar Brunos Wagen am Wegrand, wenn er sich beim Birnbaum aufhielt und ein Zwiegespräch führte mit der Tochter, die Maria ihm vorenthalten hatte. Dass der Wagen einmal nicht hier stand, wertete Nicole nicht als ein alarmierendes Zeichen.
Manchmal war es auch Ben, der den Platz aufsuchte. Seit Monaten war er wieder unterwegs, Abend für Abend, Nacht für Nacht auf der Suche nach dem verlorenen Leben und den Spuren des neuen, das ihm noch fremd und ungewohnt war.
Angst vor ihm hatte Nicole längst nicht mehr, dafür kannte sie ihn inzwischen zu gut. Oft dachte sie, wenn sie ihn im August 95 schon so gut gekannt hätte wie jetzt, es wäre alles ganz anders gekommen. Britta Lässler würde noch leben, Tanja Schlösser wäre ein gesundes, lebenslustiges Mädchen, das seinen Bruder ohne Vorbehalte lieben könnte und nicht so viel weinen müsste.
Achim Lässler hätte vielleicht seine Freundin nicht so schnell verloren oder längst eine gefunden, die bereit war, auf einem Bauernhof zu leben. Nicole hätte ihn dann niemals ins Telefon weinen hören, ihn nie bei ihrer Garage oder beim Bungalow stehen sehen, nicht Miriams Jaguar gerammt und fünftausend Mark dafür bekommen.
Sie hätte höchstens mal mit Ben einen Kaffee getrunken, weil er jetzt irgendwie zur Familie gehörte, quasi adoptiert worden war von ihrer blutjungen Schwägerin Patrizia, die ihn regelmäßig mitbrachte, wenn sie zu Besuch kam. Aber er kam auch alleine.
Vor ein paar Tagen war er morgens in ihrem Garten gewesen. Sie hatte ihn zum Frühstück hereingerufen, über eine Stunde mit ihm gesessen und sich gefragt, was erwollte. Es hatte den Anschein gehabt, dass er ihr etwas mitteilen wollte, aber bei seinem beschränkten Wortschatz: «Fein, fein macht.» Das konnte alles und nichts heißen. Nicole interpretierte es so, dass eine Frau etwas getan hatte, was ihm gefiel. Vielleicht war es nur sein Dank für das Frühstück gewesen.
Walter Hambloch hatte gesagt: «Er ist wie ein Vampir. Beim ersten Mal muss man sie reinbitten, danach kommen sie unaufgefordert. An deiner Stelle wäre ich ein bisschen vorsichtiger mit ihm, Nicole. Man kann nicht in seinen Kopf hineinsehen.»
Natürlich nicht, das konnte man bei niemandem. Im Gegensatz zu anderen jedoch, die ihre wahren Gedanken und Absichten hinter einer undurchschaubaren Miene versteckten, sah man Ben immer an, ob er zufrieden war oder nicht.
Er tat ihr Leid. Einer, der nur froh war, dass er lebte, der stets und ständig abhängig war, dass andere für sein Wohlergehen sorgten, musste einem Leid tun. Auch wenn man ihn nicht mehr als armen Kerl bezeichnen konnte, für Nicole blieb er das. Gerade wegen des Geldes, das Lukka ihm vererbt hatte, war nicht alles, was für ihn getan worden war, zu seinem Besten gewesen.
Seine älteste Schwester Anita spekulierte mit seinem Vermögen an der Börse, das wusste Nicole von Bärbel, Bens zweitälteste Schwester, mit der Nicole seit Jahren befreundet war. Das Stammkapital durfte Anita Schlösser nicht antasten. Das sollte ja laut Lukkas letztem Willen nach Bens Tod einer gemeinnützigen Einrichtung zufallen. Über die Erträge konnte Anita Schlösser nach Belieben verfügen, und sie hatte ein gutes Händchen, im Laufe der Zeit noch ein kleines Vermögen dazu erwirtschaftet und bestritt heftig, dass sie auch mit dem Leben ihres Bruders spekuliert hatte.
Nicole wusste wirklich eine Menge, sogar dass Jakob Schlösser nach dem Tod seiner Frau bei den von Burgs offen über die vermeintliche Erkenntnis gesprochen hatte, Ben habe die drei Leichen in Lukkas Auftrag vergraben. Bärbel hatte ihr davon erzählt und sich ziemlich aufgeregt. «Und den lassen die frei rumlaufen.» Dann hatte Bärbel noch
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