Lukkas Erbe
überdeutlich, hätte gerne gefragt, ob irgendetwas an Lukka auffällig gewesen war in den letzten Tagen, fragte stattdessen: «Dieser Junge, Ben, geht es ihm gut?»
«Er ist kein Junge», berichtigte Nicole. «Er ist ein Mann. Ich nehme an, dass es ihm gut geht. Warum interessiert dich das?»
«Nur so, ich frage mich, was für ein Mensch er ist.»
«Ein armer Tölpel», sagte Nicole. «Es hat bei ihm nicht mal für die Sonderschule gereicht.»
«Und warum tobte er an dem Abend? Du hast gesagt, du hattest Angst. Da muss es ja heftig gewesen sein.»
«Zuerst nicht», sagte Nicole. «Sie kamen uns auf dem Weg entgegen, Britta Lässler und er. Da war er noch friedlich. Er zog sie zur Seite, wollte mit ihr in den Mais. Sie wollte nicht, schlug nach ihm und schimpfte. Da fing er an zu schreien. Rabenaas. Das ist sein Wort für Tod. Ich hab’s zuerst nicht richtig verstanden und gedacht, er will das Fahrrad haben. Dann kam Lukka an die Tür und wollte wissen, was los war. Er sprach beruhigend auf ihn ein, aber es wurde nur schlimmer.»
«Und Lukka hatte keine Angst vor ihm?»
Nicole zuckte mit den Achseln und versuchte sich an das zu erinnern, was Bens Schwester Bärbel ihr später erzählthatte. «Wohl war ihm nicht in seiner Haut. Aber er kannte ihn gut, hat man mir erzählt. Er hat bestimmt nicht damit gerechnet, dass Ben durch die geschlossene Tür bricht. An dem Sonntagabend waren beide Terrassentüren nämlich offen. Da ist er nicht rein, obwohl es ein Kinderspiel gewesen wäre. Erst dienstags, als Lukka seine Schwester angriff. Ich hab’s nie verstanden. Seine Familie meint, er hätte Angst gehabt. Er ist wohl mal von Lukkas Hund gebissen worden. Den Hund gab es seit Jahren nicht mehr, aber das hat er anscheinend nicht begriffen.»
Miriam nickte versonnen. Die Sache mit dem Hund war ihr bekannt. Vor Jahren hatte Heinz Lukka einmal erwähnt, dass Ben sein Haus nicht betrat, seit er dort von dem Hund angefallen worden war.
«Hattest du den Eindruck, dass er etwas wusste?», fragte sie. «Ich meine, dass er eine Gefahr in Lukka sah?»
«Wenn er für Tod Rabenaas sagt», meinte Nicole, «muss er wohl was gewusst haben. Außerdem schrie er, Finger weg, Freund, deutlicher kann man es eigentlich nicht ausdrücken.»
«Wohl kaum», antwortete Miriam. «Und das hast du nicht verstanden und nichts unternommen.»
«Natürlich hab ich’s verstanden», rechtfertigte sich Nicole. «Aber ich konnte damals mit den Worten nichts anfangen. In der Situation sah es für mich so aus, als hätte Ben das Mädchen auf die Wange geküsst. Und Lukka sagte zu ihm: ‹Ja, ich bin dein Freund, und du weißt, dass du die Mädchen nicht anfassen darfst.› Da klang es, als hätte Ben ihm nur erklären wollen, dass er keine bösen Absichten hatte. Warum interessiert dich das so brennend?»
Zuletzt war Nicole etwas heftiger geworden. Sie wolltesich nicht erneut entschuldigen müssen für ihre Untätigkeit, bestimmt nicht vor dieser Frau. Einiges an Miriam Wagner störte sie gewaltig, war ihr unheimlich wie das Haus. Dass darin überhaupt noch jemand leben konnte … Mit dem Blut im Teppich. Ein Jaguar vor der Tür, das weinrote Kleid sah auch nicht nach Schlussverkauf aus. Da sollte man annehmen, Miriam Wagner hätte sich einen neuen Teppich leisten können. Und dieses Lächeln, nicht freundlich, nicht herzlich, nur spöttisch oder kalt. Die Art und der Ton, wie Miriam mit Achim Lässler gesprochen hatte. Das Blut seiner Schwester zeigen, Leichenteile, Folterkeller. Es war wirklich kein Thema, um sich daran zu ergötzen.
«Hast du das Haus gekauft oder warst du mit Lukka verwandt?», fragte Nicole.
«Beinahe verwandt», sagte Miriam, trank einen Schluck Kaffee und zündete sich noch eine Zigarette an. Dann nahm sie einen Keks aus der Dose, drehte ihn jedoch nur in der Hand. «Meine Mutter wollte ihn heiraten. Ein paar Wochen vor der Trauung trank sie zu viel, verlor auf der Landstraße die Kontrolle über ihren Wagen. Sie war sofort tot, und ich …»
Mitten im Satz brach sie ab. Der Keks war völlig zerbröselt, ihr ganzer Schoß mit Krümeln bedeckt. In ihrem Kopf hallten noch diese Worte nach: Finger weg, Freund. – Die Aufforderung, Britta Lässler nicht anzurühren, deutlicher war es wirklich nicht auszudrücken. Sie zog noch einmal hektisch an ihrer Zigarette, drückte sie im Aschenbecher aus und zeigte flüchtig auf die unter dem aufwendigen Make-up kaum sichtbare Narbe.
«Damit sind wir beim Thema, Herzchen.
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