Lukkas Erbe
in den Mund, band ihr Hände und Füße zusammen. Dann häufte er die Steine vor den Eingang. Es war keine gute Lösung. Die Rübenernte stand nun kurz bevor. Aber er wusste keine bessere Möglichkeit, sie unterzubringen.
Als er am nächsten Abend eine Plane anbrachte, damit der Wind nicht eindringen konnte, war die Frau wach. Er brachte ihr etwas zu essen und zu trinken und dachte, sie sei danach etwas freundlicher zu ihm. Doch statt sich zu bedanken, weinte sie, als er das Papier aus ihrem Mund nahm, bettelte, er solle sie gehen lassen, ihr Mann sei krank, habe nur noch kurze Zeit zu leben und brauche sie dringend.
Verraten und verkauft
Eine knappe Woche nach seinem Zusammenbruch beim Birnbaum und den zwanzig Minuten im Keller des Bungalows fuhr Bruno am frühen Vormittag mit Traktor und Pflug los, um sich bei Miriam Wagner zu revanchieren.
Beim ersten Besuch hatte er sich nur bedankt und Miriam hatte dabei ihr Studium erwähnt. Bruno machte keinen Unterschied zwischen Psychologie und Psychiatrie. Und wenn er mit seinen Mitteln nicht weiterkam …
Er wollte Ben auf keinen Fall zurück in die Landesklinik oder an sonst einen sicheren Ort bringen. Dafür gab es viele Gründe. Einer war das Geld, das für Bens Unterhalt gezahlt wurde. Tausend Mark haben und nicht haben – für drei Mahlzeiten täglich, hin und wieder eine neue Jeans, ein T-Shirt oder ein Paar Schuhe. Ben kümmerte es nicht, ob man ihm eine Hose für siebzig Mark im Kaufhaus holte oder eine für hundertsiebzig aus der Boutique, Hauptsache, sie war bequem. Da blieb eine hübsche Summe übrig.
Aber es war nicht nur das Geld. Bruno hatte sein Wort gegeben, daran änderte auch die verfluchte Anklageschrift nichts. Wenn er darüber nachdachte, sah er Trudemit ihrem müden, verhärmten Gesicht der letzten Wochen am Herd stehen. Dann wusste er, sie hätte das nicht getan, wenn sie nicht von Bens Unschuld überzeugt gewesen wäre. Sie hätte ihm eher etwas ins Essen gerührt und sich selbst auch eine große Portion genommen.
Vielleicht hatte er Ben einmal zu oft auf die Schulter geklopft, ihn einmal zu oft Kumpel genannt, einen Vergleich zu viel gezogen mit der eigenen Jugend und der Zeit, in der man ihn als Mörder verdächtigt und in die Mangel genommen hatte. Das war der dritte und wichtigste Grund, dieses Gefühl der Verbundenheit und des Mitleids. Wenn er zur Tür hereinkam und das kurze Aufleuchten in Bens Augen sah - wie ein Hund, der stundenlang auf sein Herrchen gewartet hat, freudig mit dem Schwanz wedelt, wenn Herrchen endlich erscheint. Dann hoffte der Hund, jetzt ginge es an die frische Luft. Und dann die Enttäuschung, die bangen Fragen im Blick, die nicht über die Zunge wollten, die Unterwürfigkeit, bedingungslose Ergebenheit, die Bruno schon so oft erschüttert hatte. Schick mich nicht weg, wo soll ich denn hin?
Ben hatte wohl wirklich einen Mann gebraucht, eine Leitfigur, an der er sich orientieren konnte. Jakob in seiner Hilflosigkeit, die leicht in Jähzorn umschlug, war dafür nicht geeignet gewesen. Bruno hätte den Papst verprügelt oder den Bundeskanzler, wenn sie ihm eine Veranlassung gegeben hätten und er an sie herangekommen wäre. Auch bei seiner Frau war ihm die Hand einmal ausgerutscht, aber niemals bei seinen Söhnen. Bei jeder Tracht Prügel, die er in jungen Jahren von seinem Vater bezogen hatte, hatte er sich geschworen, so nicht. Daran hatte er sich gehalten. Zwar war Ben nicht sein Sohn, aber er vertraute ihm.
Und Bruno wünschte sich, umgekehrt wäre das auch wieder der Fall. Darum ging es, als er mit Traktor undPflug zum Bungalow fuhr, nur darum. Er war sicher, mit Miriams Hilfe von Ben die Wahrheit zu erfahren – auf die eine oder andere Weise. Er hatte das Gutachten gelesen, kannte die Einschätzung der Ärzte, dass Ben nicht lügen, dass er nur unangenehmen Fragen ausweichen konnte. Das tat er bei ihm. Vielleicht war es eine Aufgabe für Fachleute in einer geschlossenen Einrichtung, aber das war nicht der Sinn der Sache. Und wenn man Fachleute im Dorf hatte …
Den ganzen Tag war Bruno mit dem Mais beschäftigt. Es war ein sehr großes Feld. Miriam schaute von der Terrasse aus zu, zweimal lud sie ihn auf einen frischen Kaffee ein, dabei plauderte sie ganz zwanglos. Sie war sehr interessiert am Auslöser für seinen Zusammenbruch. Von Nicole hatte sie nur ausweichende Antworten erhalten.
Geduldig zugehört, wenn es um seine Tochter ging, hatte ihm bis dahin noch niemand. Fast zwei Stunden dauerte das
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