Lullaby (DE)
Gewirr aus Ranken und Laub geben die Backsteinmauern nach. Risse sprengen den Beton. Die Fenster werden gewürgt, bis das Glas zerspringt. Türen lassen sich nicht öffnen, weil die Rahmen völlig verzogen sind. Vögel fliegen in den senkrechten grünen Wänden ein und aus, fressen die Efeusamen und scheißen sie überall hin. Nur einen Block entfernt sind die Straßen grüne Canyons, sind Asphalt und Bürgersteige grün überwuchert.
»Die grüne Bedrohung«, so nennen die Zeitungen das. Der Efeu wird mit Killerbienen gleichgesetzt. Das Efeu-Inferno.
Stumm, unaufhaltsam. Das Ende der Zivilisation in Zeitlupe.
Die Kellnerin sagt, jedes Mal, wenn die städtischen Arbeiter die Ranken beschneiden oder mit Flammenwerfern bearbeiten oder mit Gift einsprühen – und sogar damals, als sie Herden von Zwergziegen einsetzten, die das Zeug wegfressen sollten –, breiten sich die Efeuwurzeln weiter aus. Die Wurzeln bringen Tunnel zum Einsturz. Sie durchtrennen unterirdisch verlegte Kabel und Rohrleitungen.
Sarge wählt immer wieder die Nummer aus der Sushi-Anzeige, aber es geht niemand mehr ran.
Die Kellnerin blickt zu den Spitzen der Efeuranken, die schon über die Straße kommen. Noch eine Woche, und sie ist arbeitslos.
»Die Nationalgarde hat uns Unterstützung zugesagt«, sagt sie.
Sie sagt: »Ich habe gehört, dass die in Portland jetzt auch den Efeu haben. Und in San Francisco.« Sie seufzt auf: »Den Kampf verlieren wir garantiert.«
28
Der Mann macht die Tür auf, und Helen und ich stehen hier vor seinem Haus, ich mit Helens Kosmetikkoffer einen halben Schritt hinter ihr, während sie mit dem langen rosa Nagel ihres Zeigefingers auf ihn deutet und sagt: »O Gott.«
Sie hat ihren Terminkalender unter den Arm geklemmt und sagt: »Mein Mann«, und tritt einen Schritt zurück. »Mein Mann würde Ihnen gern Zeugnis ablegen über die Verheißung unseres Herrn Jesus Christus.«
Helens Kostüm ist gelb, aber nicht butterblumengelb. Es ist eher das Gelb einer Butterblume, wie Carl Fabergé sie aus Gold und gelben Steinen herstellen würde.
Der Mann hält eine Bierflasche in der Hand. Er trägt graue Socken, aber keine Schuhe. Sein Bademantel steht vorn offen, darunter trägt er ein weißes T-Shirt und Boxershorts mit einem Muster aus kleinen Rennautos. Er steckt sich das Bier in den Mund. Er legt den Kopf nach hinten, und in der Flasche blubbern Blasen hoch. Die kleinen Rennautos haben nach vorn geneigte ovale Reifen. Der Mann rülpst und sagt: »Habt ihr sie noch alle?«
Das schwarze Haar hängt ihm in die gefurchte Frankensteinstirn. Er hat traurige Hundeaugen mit dicken Tränensäcken.
Ich halte ihm die Hand hin und sage: Mr. Sierra? Ich sage, wir sind hier, um Ihnen von der Liebe Gottes zu künden.
Und der Kerl mit den Rennautos runzelt die Stirn und sagt: »Woher kennen Sie meinen Namen?« Er schaut mich missmutig an und sagt: »Hat Bonnie euch geschickt, dass ihr mit mir reden sollt?«
Und Helen späht an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Sie klickt ihre Handtasche auf, nimmt ein Paar weiße Handschuhe heraus und streift sie sich langsam über. Sie schließt links und rechts je einen kleinen Knopf am Handgelenk und sagt: »Dürfen wir reinkommen?«
Das hatten wir uns einfacher vorgestellt.
Plan B. Wenn wir in einem Haus einen Mann antreffen, tritt Plan B in Kraft.
Der Kerl mit den Rennautos schiebt sich die Bierflasche ins Maul und saugt, dass seine stoppligen Backen sich nach innen wölben. Er legt den Kopf zurück, und das restliche Bier gluckert runter. Er tritt zur Seite und sagt: »Na gut. Setzt euch.« Er betrachtet die leere Flasche und sagt: »Wollt ihr ein Bier?«
Wir treten ein, und er geht in die Küche. Dann zischt es, weil er eine Flasche öffnet.
Im ganzen Wohnzimmer steht bloß ein einziger Lehnstuhl. Und ein kleiner tragbarer Fernseher auf einer Milchkiste. Durch die Schiebetür blickt man auf eine Veranda. Am Rand der Veranda sind grüne Floristenvasen aufgereiht, randvoll mit Regenwasser, aus dem verfaulte schwarze Blumen hängen. Verfaulte braune Rosen an schwarzen, grau verschimmelten Stielen. Um einen dieser Sträuße ist eine breite schwarze Satinschleife gewunden.
Im groben Wohnzimmerteppich sind noch die geisterhaften Umrisse eines Sofas zu erkennen. Ebenso die Umrisse eines Porzellanschränkchens und die kleinen Eindrücke, die von Stuhl- und Tischbeinen hinterlassen wurden. Und ein großes flaches Rechteck, wo der Teppich gleichmäßig niedergedrückt ist. Das alles sieht
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