Lullaby (DE)
sehr vertraut aus.
Der Kerl mit den Rennautos winkt mich zum Lehnstuhl und sagt: »Setz dich.« Er nimmt einen Schluck Bier und sagt: »Setz dich, dann erzähl ich dir mal, was Gott wirklich für einer ist.«
Das große Rechteck auf dem Teppich, das stammt von einem Laufstall.
Ich frage, ob meine Frau mal auf die Toilette gehen darf.
Und er hält den Kopf schräg und sieht Helen an. Mit der freien Hand kratzt er sich im Nacken und sagt: »Klar. Am Ende vom Flur«, und gestikuliert mit seiner Bierflasche.
Helen folgt dem Bier, das auf den Teppich schwappt, mit dem Blick und sagt: »Danke.« Sie zieht den Terminkalender unterm Arm hervor, gibt ihn mir und sagt: »Die Bibel, falls du sie brauchst.«
Ihr Buch voller politischer Zielscheiben und Immobiliengeschäfte. Großartig.
Es ist noch warm von ihrer Achselhöhle.
Sie verschwindet im Flur. Ein Badventilator surrt los. Irgendwo wird eine Tür zugemacht.
»Setz dich«, sagt der Kerl mit den Rennautos.
Und ich setze mich.
Er steht so nah bei mir, dass ich Angst habe, den Terminkalender aufzuschlagen, weil er dann sehen würde, dass es gar keine Bibel ist. Er riecht nach Bier und Schweiß. Die kleinen Rennautos sind mit mir auf Augenhöhe. Die ovalen Reifen sind nach vorn geneigt, damit es so aussieht, als führen die Autos sehr schnell. Der Kerl nimmt einen Schluck und sagt: »Erzähl mir von Gott.«
Der Lehnstuhl riecht nach ihm. Er ist mit goldgelbem Samt bezogen, die Armlehnen schmutzig gebräunt. Er ist warm. Und ich sage, Gott sei ein edler, kompromissloser Moralist, für den alles andere als standhaftes, rechtschaffenes Verhalten nicht akzeptabel sei. Er sei eine Bastion der Redlichkeit, ein Licht, das die Übel dieser Welt zum Vorschein kommen lasse. Gott werde immer in unseren Herzen sein, weil er selbst so stark und so un ...
»Scheißdreck«, sagt der Kerl. Er wendet sich ab und stellt sich an die Verandatür. Das Glas spiegelt sein Gesicht, allerdings nur seine Augen; die stopplige Kieferpartie verliert sich im Schatten.
Mit meiner besten Radiopredigerstimme sage ich, Gott ist der moralische Maßstab, den Millionen Menschen an ihr Leben legen müssen. Er ist das Flammenschwert, gesandt, die Missetaten und Missetäter aus dem Tempel des ...
»Scheißdreck!«, schreit der Kerl sein Spiegelbild in der Glastür an. Biertropfen rinnen über das gespiegelte Gesicht.
Helen steht in der Tür zum Flur und nagt an einem Fingerknöchel. Sie sieht mich an und zuckt die Achseln. Dann entschwindet sie wieder.
Aus dem goldsamtenen Lehnsessel sage ich, Gott sei ein Engel mit beispielloser Macht und Einfluss, ein Gewissen der Welt, einer Welt voller Sünden und böser Absichten, einer Welt verbor ...
Fast flüsternd sagt der Kerl: »Scheißdreck.« Sein Atemnebel hat das Spiegelbild gelöscht. Er dreht sich zu mir um, zeigt mit der Bierhand auf mich und sagt: »Lies mir was aus deiner Bibel vor, wie man irgendwas wieder gutmachen kann.«
Ich schlage Helens in rotes Leder gebundenen Terminkalender einen Spalt weit auf und spähe hinein.
»Sag mir, wie ich der Polizei beweisen kann, dass ich niemand getötet habe«, sagt der Kerl.
In dem Kalender steht unterm Datum des 2. Juni der Name Renny O’Toole. Wer auch immer das ist, er ist tot. Am 10. September ist Samara Umpirsi eingetragen. Am 17. August hat Helen einen Vertrag für ein Haus in der Gardner Hill Road abgeschlossen. Und sie hat den Diktator der Republik Tongle getötet.
»Mach schon!«, schreit der Kerl. Das Bier in seiner Hand schäumt ihm über die Finger und tropft auf den Teppich. Er sagt: »Lies mir vor, wo das steht, dass ich in einer Nacht alles verlieren kann und die Leute dann sagen, das ist alles meine Schuld.«
Ich spähe in das Buch, und da stehen immer nur mehr Namen von toten Leuten.
»Mach schon«, sagt der Kerl und trinkt einen Schluck. »Lies mir vor, wo das steht, dass eine Frau ihren Mann beschuldigen kann, dass er ihr beider Kind umgebracht hat, und alle glauben ihr das.«
Am Anfang des Buchs ist die Schrift verblichen und schwer zu lesen. Die Blätter sind steif und fleckig. Davor hat jemand die ältesten Seiten herausgerissen.
»Ich habe Gott gebeten«, sagt der Kerl. Er fuchtelt mit der Bierflasche und sagt: »Ich habe ihn gebeten, mir eine Familie zu geben. Ich bin zur Kirche gegangen.«
Ich sage, vielleicht hat Gott ja nicht damit angefangen, jeden, der zu ihm betet, mit Unglück und Flüchen zu überhäufen. Ich sage, vielleicht kam das erst, nachdem er jahrelang
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