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Lullaby (DE)

Lullaby (DE)

Titel: Lullaby (DE) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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immer wieder dieselben Gebete hören musste, in denen es um ungewollte Schwangerschaften, Scheidungen und Familienstreitigkeiten ging. Vielleicht lag es daran, dass sein Publikum größer wurde und immer mehr Leute Forderungen an ihn stellten. Vielleicht waren es die vielen Lobpreisungen, die er bekam. Vielleicht hat Macht einen verderblichen Einfluss, aber er war jedenfalls nicht immer so ein Miststück.
    Und der Kerl mit den Rennautos sagt: »Jetzt pass mal auf.« Er sagt: »Ich muss in zwei Tagen zum Gericht, wo festgestellt wird, ob ich wegen Mord angeklagt werde.« Er sagt: »Und jetzt sag mir, wie Gott mich da rausholen wird.«
    Sein Atem besteht nur noch aus Bier. Er sagt: »Sag es mir.«
    Mona würde mir empfehlen, die Wahrheit zu sagen. Um diesen Kerl zu erlösen. Um mich und Helen zu erlösen. Um uns mit der Menschheit zu versöhnen. Vielleicht würden dieser Kerl und seine Frau sich wieder versöhnen, aber dann wäre das Gedicht heraus. Millionen würden sterben. Und der Rest würde in dieser Welt des Schweigens leben und nur noch hören, was für ungefährlich gehalten wird. Sich die Ohren zustöpseln und Bücher, Filme und Musik verbrennen.
    Irgendwo hört man eine Toilettenspülung. Ein Badventilator surrt aus. Eine Tür geht.
    Der Kerl steckt sich das Bier in den Mund, und in der Flasche blubbern Blasen hoch.
    Helen erscheint in der Tür zum Flur.
    Mir tut der Fuß weh, und ich frage den Mann, ob er mal dran gedacht hat, sich ein Hobby zuzulegen.
    Vielleicht etwas, was er im Gefängnis tun könnte.
    Konstruktive Destruktion. Helen würde das Opfer bestimmt billigen. Einen einzigen Unschuldigen verurteilen, damit Millionen nicht sterben müssen.
    Man denke an das Labortier, das stirbt, um einem Dutzend Menschen den Krebstod zu ersparen.
    Und der Kerl mit den Rennautos sagt: »Ich glaub, du gehst jetzt lieber.«
    Als wir zum Auto gehen, gebe ich Helen den Terminkalender und sage, hier hast du deine Bibel. Mein Piepser meldet sich und zeigt mir eine Nummer, die ich nicht kenne.
    Ihre weißen Handschuhe sind schwarz vor Staub, und sie sagt, sie hat die Seite mit dem Merzlied zerrissen und aus dem Kinderzimmerfenster geworfen. Es regnet. Das Papier wird verrotten.
    Ich sage, das reiche nicht. Irgendein Kind könnte es finden. Allein die Tatsache, dass es zerrissen ist, könnte jemanden auf die Idee bringen, es wieder zusammenzusetzen. Einen Polizisten womöglich, der Ermittlungen über den Tod des Kindes anstellt.
    Und Helen sagt: »Das Badezimmer war ein Albtraum.«
    Wir fahren um den Block herum und bleiben dort stehen. Mona sitzt kritzelnd auf der Rückbank. Oyster telefoniert. Helen wartet, während ich geduckt zu dem Haus zurückgehe. Ich schleiche mich zur Hinterseite, der nasse Rasen saugt an meinen Schuhen, aber schließlich stehe ich unter dem Fenster, das nach Helens Beschreibung zu dem Kinderzimmer gehört. Das Fenster ist noch offen, die Vorhänge wehen schlapp heraus. Rosa Vorhänge.
    Die Fetzen der Buchseite liegen überall im Matsch verstreut, und ich mache mich daran, sie alle aufzusammeln.
    Hinter den Vorhängen hört man in dem leeren Zimmer die Tür aufgehen. Der Umriss eines Menschen tritt aus dem Flur hinein, und ich kauere mich unterm Fenster in den Matsch. Eine Männerhand legt sich aufs Fensterbrett, und ich drücke mich flach an die Hauswand. Irgendwo über mir fängt ein Mann, den ich nicht sehen kann, zu schluchzen an.
    Der Regen wird stärker.
    Der Mann steht, sich mit beiden Händen abstützend, am offenen Fenster. Das Schluchzen wird lauter. Man riecht das Bier in ihm.
    Und ich, ich kann nicht weglaufen. Ich kann nicht aufstehen. Ich halte mir Mund und Nase zu, krieche ein paar Zentimeter weiter, dicht ans Fundament gepresst, unsichtbar. Und als ich so durch die Finger atme, überkommt es mich so plötzlich wie ein Schaudern, und auch ich fange zu weinen an. Schluchzer, so heftig wie Erbrechen. Mir krampft sich der Magen zusammen. Ich beiße mir in die Handfläche, der Rotz sprüht mir in die Hände.
    Der Mann schnieft; ein lautes, brodelndes Geräusch. Der Regen wird noch stärker, das Wasser zieht mir durch die Schnürbänder in die Schuhe.
    Die Fetzen des Gedichts in der Hand, habe ich Macht über Leben und Tod. Nur dass ich nichts tun kann. Noch nicht.
    Und möglicherweise kommt man nicht in die Hölle für das, was man tut. Möglicherweise kommt man nur für das in die Hölle, was man nicht tut.
    In meinen Schuhen steht kaltes Wasser, und der Fuß tut nicht mehr weh. Mit

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