Lullaby (DE)
piepen.
Helen fährt aus dem Schlaf.
Die Telefonnummer auf dem Piepser kenne ich nicht.
Helen richtet sich blinzelnd auf und sieht mich an. Sie wirft einen Blick auf die kleine funkelnde Uhr an ihrem Handgelenk. Ihre eine Gesichtshälfte, mit der sie auf ihren baumelnden Smaragdohrringen geschlafen hat, ist von tiefen roten Abdrücken entstellt. Sie betrachtet die rosa Blütenschicht auf den Fenstern. Sie fährt sich mit den rosa Fingernägeln ins Haar und bauscht es auf. Sie sagt: »Wo sind wir jetzt?«
Manche Leute denken immer noch, Wissen sei Macht.
Ich sage, ich habe keine Ahnung.
30
Mona steht neben mir. Sie hält mir eine aufgeschlagene Hochglanzbroschüre unter die Nase und sagt: »Können wir da hin? Bitte! Nur ein paar Stunden? Bitte!«
In der Broschüre sind Fotos von Leuten abgebildet, die mit hochgereckten Händen kreischend in einer Achterbahn sitzen. Von Leuten, die in Gokarts auf einer mit alten Autoreifen abgesteckten Bahn herumfahren. Von Leuten, die Zuckerwatte essen und auf den Plastikpferden eines Karussells reiten. Von Leuten, die auf einem Riesenrad in die Sitze geschnallt sind. Darüber steht in großen geschnörkelten Buchstaben: LaughLand, der Ort für die ganze Familie.
Nur dass an Stelle der a vier lachende Clownsgesichter zu sehen sind. Mutter, Vater, Sohn und Tochter.
Wir haben noch weitere vierundachtzig Bücher unschädlich zu machen. In Dutzenden Büchereien überall im Land. Und dann gilt es das Grimoire zu finden. Menschen von den Toten zurückzuholen. Oder zu kastrieren. Oder die ganze Menschheit umzubringen, je nachdem, wen man nach seiner Meinung fragt.
Wir haben so viel zu regeln. Um wieder zu Gott zurückzufinden, wie Mona sagen würde. Nur um wieder bei Null anfangen zu können.
Karl Marx würde sagen, wir haben alle Pflanzen und Tiere zu unseren Feinden gemacht, nur um zu rechtfertigen, dass wir sie umbringen.
Die Zeitung von heute berichtet, dass der Mann eines der Fotomodelle wegen Mordverdachts verhaftet wurde.
Ich stehe in einer Telefonzelle vor irgendeiner Kleinstadtbücherei, während Helen und Oyster drinnen das nächste Buch entschärfen.
Eine Männerstimme im Hörer sagt: »Mordkommission.«
Ich frage ins Telefon, wer da spreche.
Und die Stimme sagt: »Detective Ben Danton, Mordkommission.« Er sagt: »Und wer sind Sie?«
Ein Polizist. Mona würde ihn meinen Erlöser nennen, gesandt, mich in die Herde der Menschheit zurückzutreiben. Das ist die Nummer, die in den letzten Tagen immer wieder auf meinem Piepser erschienen ist.
Mona dreht die Broschüre um und sagt: »Sieh doch mal.« In ihr Haar sind zerbrochene Windmühlen und Zugbrücken und Funktürme geflochten.
Die Fotos zeigen lächelnde Kinder, die von Clowns in den Armen gehalten werden. Eltern, die Hand in Hand umherschlendern oder in kleinen Kähnen durch einen Liebestunnel fahren.
Sie sagt: »Diese Reise muss ja nicht nur aus Arbeit bestehen.«
Helen tritt aus der Bücherei und kommt die Treppe herunter, und Mona stürzt auf sie zu und sagt: »Helen, Mr. Streator hat gesagt, es ist okay.«
Und ich halte mir den Hörer des Münztelefons an die Brust und sage, das habe ich nicht gesagt.
Oyster geht etwas versetzt einen Schritt hinter Helen.
Mona hält Helen die Broschüre unter die Nase und sagt: »Da haben wir bestimmt viel Spaß.«
Im Hörer fragt Detective Danton: »Wer spricht da?«
Es war in Ordnung, den armen Kerl in den Boxershorts mit den Rennautos zu opfern. Es war in Ordnung, die junge Frau in der Kükenschürze zu opfern. Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen, sie leiden zu lassen. Und den Witwer eines Fotomodells zu opfern. Aber mich zu opfern, um Millionen zu retten, das ist etwas ganz anderes.
Ins Telefon sage ich meinen Namen, Streator, und dass er mich angepiept habe.
»Mr. Streator«, sagt er, »würden Sie uns bitte aufsuchen? Wir hätten da ein paar Fragen.«
Ich frage, was für Fragen.
»Können wir darüber nicht persönlich reden?«, sagt er.
Ich frage, ob es um einen Todesfall geht.
»Wann können Sie hier sein?«, sagt er.
Ich frage, ob es um die Serie von Todesfällen ohne erkennbare äußere Ursache geht.
»Früher wäre besser als später«, sagt er.
Ich frage, ob es darum geht, dass eines der Opfer bei mir im Haus gewohnt hat und drei andere meine Redakteure gewesen sind.
Und Danton sagt: »Was Sie nicht sagen.«
Ich frage, ob es darum geht, dass ich drei weiteren Opfern unmittelbar vor ihrem Tod auf der Straße begegnet bin.
Und Danton sagt:
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