Lullaby (DE)
»Schon mal was von einem Liebeszauber gehört?«
Aus irgendeinem Grund muss ich daran denken, wie Nash tote Frauen vögelt.
»Helen hat einen Zauber gefunden, mit dem sie dich an sich fesselt«, sagt Mona. »Du bist in ihrer Macht. Du liebst sie nicht wirklich.«
Nicht wirklich?
Mona sieht mir in die Augen und sagt: »Wann hast du das letzte Mal daran gedacht, das Grimoire zu verbrennen?« Sie zeigt auf den Boden und sagt: »Das da? Das, was du Liebe nennst? Das ist bloß ihre Art, dich zu beherrschen.«
Ein Auto kommt und parkt ein, und drinnen sitzt Oyster. Er schüttelt sich das Haar aus dem Gesicht und bleibt hinterm Steuer sitzen. Er beobachtet uns. Sein blondes Haar, völlig ruiniert, sieht aus wie explodiert. Zwei tiefe parallele Furchen, Narben von Schnittwunden, ziehen sich über seine Wangen. Dunkelrote Kriegsbemalung.
Sein Handy piept, und er spricht hinein. »Anwaltskanzlei Doland, Dimms und Dorn.«
Der Griff nach der Macht.
Aber ich liebe Helen.
»Nein«, sagt Mona. Sie sieht kurz zu Oyster hinüber. »Das bildest du dir nur ein. Sie hat dich verzaubert.«
Aber es ist Liebe.
»Ich kenne Helen schon viel länger als du«, sagt Mona. Sie verschränkt die Arme, sieht auf ihre Armbanduhr und sagt: »Das ist nicht Liebe. Sondern ein schöner, angenehmer Zauber, mit dem sie dich zu ihrem Sklaven macht.«
39
Kenner altgriechischer Kultur behaupten, dass die Menschen damals ihre Gedanken nicht als ihr Eigentum betrachtet haben. Wenn ihnen ein Gedanke kam, meinten sie, ein Gott oder eine Göttin gebe ihnen einen Befehl. Apollo forderte sie auf, tapfer zu sein.
Athene sagte ihnen, sie sollten sich verlieben.
Heute hören die Leute eine Werbesendung für Sourcream-Kartoffelchips und rennen los, um das Zeug zu kaufen.
Zwischen Fernsehen und Radio und Helen Hoover Boyles Zaubersprüchen weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir selbst noch glaube.
Am Abend fährt Helen uns in den Antiquitätenladen, das große Lagerhaus, in dem sie so viele Möbel verunstaltet hat. Es ist unbeleuchtet und verschlossen, aber sie braucht nur eine Hand aufs Schloss zu legen und kurz ein Gedicht aufzusagen, und schon schwingt die Tür auf. Keine Alarmanlage jault los. Nichts. Wir dringen tief in das Möbellabyrinth vor, über uns dunkle Lüster. Durch die Oberlichter scheint der Mond herein.
»Sieh, wie einfach das ist«, sagt Helen. »Wir können alles machen.«
Nein, sage ich, sie kann alles machen.
Helen sagt: »Liebst du mich noch?«
Wenn sie es will. Keine Ahnung. Wenn sie es sagt.
Helen blickt zu den Kronleuchtern auf, diesen hängenden Käfigen aus Gold und Kristall, und sagt: »Zeit für eine schnelle Nummer?«
Und ich sage, mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig.
Ich kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was ich will, und dem, was ich wollen soll.
Oder zwischen dem, was ich wirklich will, und dem, was man mich wollen macht.
Ich rede hier vom freien Willen. Haben wir den, oder diktiert und verordnet Gott uns tatsächlich alles, was wir tun, sagen und wollen? Haben wir einen freien Willen, oder werden wir, unsere Wünsche und Handlungen, von Geburt an von den Massenmedien und unserer Kultur gesteuert? Habe ich ihn, oder werde ich von Helens Zaubermacht gelenkt?
Helen steht vor einem Regency-Schrank aus knotigem Walnussholz mit einem großen Spiegel aus facettiertem Glas in der Tür. Sie streicht über die geschnitzten Schnörkel und Girlanden und sagt: »Du kannst mit mir unsterblich werden.«
Wie diese Möbel durch ein Leben nach dem anderen wandern und jeden, der uns liebt, sterben sehen. Parasiten. Diese Schränke. Helen und ich, die Kakerlaken unserer Kultur.
Quer über die Spiegeltür zieht sich ein tiefer alter Kratzer, der von ihrem Diamantring herrührt. Aus der Zeit, als sie diesen unsterblichen Müll geliebt hat.
Man stelle sich Unsterblichkeit vor, ein Leben, in dem selbst eine Ehe von fünfzig Jahren einem bloß wie ein Schäferstündchen vorkommen würde. Man stelle sich vor, Trends und Moden an einem vorbeirauschen zu sehen. Man stelle sich die Welt vor, wie sie mit jedem Jahrhundert beengter und hoffnungsloser wird. Man stelle sich vor, wie Religionen, Heimaten, Ernährungsgewohnheiten und Karrieren einander abwechseln, bis nichts davon mehr irgendeinen Wert hat. Man stelle sich vor, durch die Welt zu reisen, bis jeder Quadratzentimeter einen nur noch langweilt. Man stelle sich seine Gefühle vor, Liebe, Hass, Rivalität, Triumph, und
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