Lullaby (DE)
alles im Plural und immer wieder durchgespielt, bis das Leben nur noch eine melodramatische Seifenoper ist. Bis Geburt und Tod anderer Menschen einen so kalt lassen wie die welken Schnittblumen, die man fortwirft.
Ich sage Helen, ich denke, wir seien schon unsterblich.
Sie sagt: »Ich habe die Macht.« Sie öffnet die Handtasche und fischt ein gefaltetes Blatt Papier heraus, schüttelt es auseinander und sagt: »Weißt du, was Spiegelmagie ist?«
Ich weiß nicht, was ich weiß. Ich weiß nicht, was wahr ist. Ich bezweifle, dass ich überhaupt etwas weiß. Ich sage: Erklär’s mir.
Helen zieht sich einen Seidenschal vom Hals und wischt den Staub von dem großen Spiegel in der Schranktür. Es ist ein Regency-Schrank mit Olivenholzintarsien und feuervergoldeten Zweites-Empire-Beschlägen, so steht es auf dem angeklebten Kärtchen. Sie sagt: »Hexen streichen Öl auf einen Spiegel und sagen einen Spruch, und dann können sie in dem Spiegel die Zukunft sehen.«
Die Zukunft, sage ich, großartig. Trespe. Kudzu. Nilbarsch.
Im Augenblick bin ich mir nicht mal sicher, ob ich die Gegenwart sehen kann.
Helen hält das Papier hoch und liest. Mit der tonlosen, wie zählenden Stimme, mit der sie auch schon den Flugzauber gesprochen hatte, liest sie schnell ein paar Zeilen ab. Sie lässt das Papier sinken und sagt: »Spieglein, Spieglein, sag uns die Zukunft an, wie wird es sein, wenn wir uns lieben und unsere neue Macht gebrauchen.«
Ihre neue Macht.
»Das mit dem ›Spieglein, Spieglein‹ habe ich erfunden«, sagt Helen. Sie fasst meine Hand und drückt sie, aber ich drücke nicht zurück. Sie sagt: »Ich habe das im Büro mit dem Spiegel in meiner Puderdose ausprobiert, und das war wie Fernsehen durch ein Mikroskop.«
In dem Spiegel werden unsere Umrisse unscharf, verschwimmen ineinander, vernebeln sich zu einem einheitlichen Grau.
»Zeige uns«, sagt Helen, »unsere gemeinsame Zukunft.«
Und in dem Grau bilden sich Konturen. Licht und Schatten fügen sich zusammen.
»Siehst du«, sagt sie. »Das sind wir. Wir sind wieder jung. Das kann ich nämlich auch. Du siehst aus wie auf dem Bild in der Zeitung. Auf dem Hochzeitsfoto.«
Alles ist so verschleiert. Ich weiß nicht, was ich da sehe.
»Und da«, sagt Helen. Sie deutet mit dem Kinn nach dem Spiegel. »Wir regieren die Welt. Wir gründen ein Herrschergeschlecht.«
Aber was ist genug?, höre ich Oyster fragen. Er mit seinem Gerede von der Überbevölkerung.
Macht, Geld, Essen, Sex, Liebe. Können wir je genug bekommen, oder wollen wir, wenn wir ein wenig bekommen, immer nur mehr davon?
In dem wabernden Durcheinander der Zukunft kann ich gar nichts erkennen. Ich sehe nur die Vergangenheit, jede Menge davon. Mehr Probleme, mehr Menschen. Weniger Artenvielfalt. Mehr Leid.
»Ich sehe uns für immer zusammen«, sagt sie.
Ich sage, wenn sie das so will.
Und Helen sagt: »Was soll das heißen?«
Das heißt alles, was sie will, sage ich. Sie ist es, die hier die Fäden in der Hand hält. Die ihre kleinen Setzlinge pflanzt. Die mich kolonisiert. Die Massenmedien, die Kultur, alles legt mir seine Eier unter die Haut. Big Brother gibt mir die Bedürfnisse ein.
Will ich wirklich ein großes Haus, ein schnelles Auto, tausend schöne Sexpartnerinnen? Will ich diese Dinge wirklich? Oder soll ich sie nur wollen?
Sind diese Dinge wirklich besser als die, die ich schon habe? Oder soll ich nur unzufrieden sein mit dem, was ich jetzt habe? Hat man mir nur eingeflüstert, dass nichts niemals gut genug ist?
Das Grau im Spiegel kreist und wirbelt. Es könnte alles Mögliche sein. Was auch immer die Zukunft bereithält, am Ende wird es enttäuschend sein.
Und Helen nimmt meine andere Hand. Sie hält mich bei den Händen, zieht mich herum und sagt: »Sieh mich an.« Sie sagt: »Hat Mona was zu dir gesagt?«
Ich sage, du liebst dich. Ich will bloß nicht mehr ausgenutzt werden.
Über uns schimmern die Kronleuchter silbrig im Mondlicht.
»Was hat Mona gesagt?«, sagt Helen.
Und ich zähle 1, zähle 2, zähle 3 ...
»Lass das«, sagt Helen. »Ich liebe dich.« Sie drückt meine Hände und sagt: »Schließ mich nicht aus.«
Ich zähle 4, zähle 5, zähle 6 ...
»Du bist genau wie mein Mann«, sagt sie. »Ich will nur, dass du glücklich bist.«
Das ist einfach, sage ich, du brauchst mich bloß mit einem Glückszauber zu belegen.
Und Helen sagt: »Einen solchen Zauber gibt es nicht.« Sie sagt: »Dafür gibt es Drogen.«
Ich will die Welt nicht immer schlechter machen.
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