Lullaby (DE)
tiefem Wasser macht, im Schwimmbad, wenn man auf den Boden zu kommen versucht. Ich rudere mit den Armen nach Halt. Ich strample, und meine Füße steigen hinter mir hoch, bis ich kopfüber auf das Ballsaalparkett ein, zwei, drei Meter unter mir blicke. Ich und mein Schatten geraten immer weiter auseinander. Mein Schatten wird immer kleiner.
Helen sagt: »Pass auf, Carl.«
Und etwas Kaltes und Sprödes wickelt sich um mich. Spitze Stückchen von etwas Losem legen sich mir um den Hals und bleiben in meinem Haar hängen.
»Das ist der Kronleuchter, Carl«, sagt Helen. »Sei vorsichtig.«
Mein Hintern steckt mitten in den Kügelchen und Rhomben aus Kristall, ein zitternder, klirrender Krake umfängt mich. Die kalten Glasarme und unechten Kerzen. Meine Arme und Beine verheddern sich in den hängenden Kristallketten. Den staubigen Kristallquasten. Den Spinnweben und toten Spinnen. Eine heiße Glühbirne versengt mich durch den Hemdsärmel hindurch. So hoch über dem Boden greife ich in Panik nach einem geschwungenen Glasarm, und das ganze glitzernde Chaos gerät ins Schwanken und klingelt wie tausend Windklangspiele. Blitzende Kristalle fallen rasselnd zu Boden. Das ganze Ding schaukelt mit mir mittendrin hin und her.
Und Helen sagt: »Lass das. Du machst noch alles kaputt.«
Dann ist sie neben mir, schwebt unmittelbar hinter einem Vorhang aus Kristallperlen. Ihre Lippen formen stumme Worte. Helens Fingernägel teilen die Perlen, und sie lächelt mich an und sagt: »Bringen wir dich erst einmal in die richtige Position.«
Das Buch ist weg, sie hält die Kristalle zur Seite und schwimmt näher heran.
Ich klammere mich mit beiden Händen an einem der Glasarme fest. Die Millionen flirrenden Teilchen beben im Takt zu meinem Herzschlag.
»Tu so, als wärst du unter Wasser«, sagt sie und bindet mir den Schuh auf. Sie zieht mir den Schuh vom Fuß und lässt ihn fallen. Mit ihren fleckigen Händen bindet sie mir den anderen Schuh auf, und der erste poltert auf den Boden. »Hier«, sagt sie und schiebt ihre Arme unter meine. »Zieh deine Jacke aus.«
Sie wirft meine Jacke aus dem Kronleuchter. Dann meine Krawatte. Sie zieht ihre eigene Jacke aus und lässt sie fallen. Um uns herum schimmert der Kronleuchter in Millionen Regenbogen aus Bleikristall. Hundert kleine Glühbirnen erwärmen die Luft. Der Geruch von verbranntem Staub auf all diesen heißen Glühbirnen. Alles strahlt und zittert, und wir schweben hier mitten im hohlen Zentrum.
Wir schweben in nichts als Licht und Wärme.
Helens Mund formt stumme Worte, und mein Herz fühlt sich an, als wäre es mit warmem Wasser gefüllt.
Helens Ohrringe, ihr ganzer Schmuck funkelt grell. Wir hören nur das klingelnde Glas um uns. Allmählich schwingen wir aus, und ich lockere meinen Griff. Eine Million klirrende helle Sterne um uns herum. So muss man sich als Gott fühlen.
Und auch das ist mein Leben.
Ich sage, ich brauche ein Dach überm Kopf. Einen Unterschlupf vor der Polizei. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Helen streckt die Hand aus und sagt: »Hier.«
Und ich nehme sie. Und sie lässt nicht los. Und wir küssen uns. Und das ist schön.
Und Helen sagt: »Fürs Erste kannst du hier bleiben.« Sie schnippt mit einem rosa Fingernagel an ein leuchtendes Glasteilchen, das facettiert geschliffen ist, sodass es das Licht in tausend Richtungen streut. Sie sagt: »Von jetzt an können wir alles tun.« Sie sagt: »Alles.«
Wir küssen uns, und mit den Zehen streift sie mir die Socken ab. Wir küssen uns, und ich mache die Knöpfe am Rücken ihrer Bluse auf. Meine Socken, ihre Bluse, mein Hemd, ihre Strumpfhose. Manches fällt auf den Boden tief unter uns, manches verfängt sich in den Armen des Kronleuchters.
Mein geschwollener, entzündeter Fuß, der Schorf auf Helens Knien seit Oysters Attacke – unmöglich, das voreinander zu verbergen.
Zwanzig Jahre, aber nun ist passiert, was ich mir nie hätte träumen lassen, und ich sage, ich verliebe mich gerade.
Und Helen, strahlend hell in all diesem Licht, sie legt lächelnd den Kopf zurück und sagt: »So soll es auch sein.«
Ich bin in sie verliebt. Verliebt. In Helen Hoover Boyle.
Meine Hose und ihr Rock landen flatternd auf dem Haufen unten, den Kristallen, unseren Schuhen, dem Grimoire.
38
Die Türen zum Büro von Helen Hoover Boyle sind abgesperrt, und als ich klopfe, ruft Mona durch das Glas: »Wir haben geschlossen.«
Und ich rufe, ich sei kein Kunde.
Mona sitzt drinnen an ihrem Computer und tippt.
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