Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
es genauso. Ich heiße Seine Methoden nicht gut, ganz und gar
nicht. Aber ich glaube, dass Ihm das, was hier geschieht, nicht
gleichgültig ist. Vor vielen Jahren hat Er sehr viel Leid verursacht,
aber nun ist Er zurückgekehrt, um der Menschheit einen Gefallen zu tun.
Vielleicht denkt Er , dass Er so das geschehene Unrecht wieder
gutmachen kann, oder Er handelt einfach so, weil Er die Macht
dazu hat. Das ist eigentlich gar nicht wichtig, denn es ist die Tat, die zählt.
Als ich in Seinem Einfluss stand, lernte ich Ihn beinahe so gut
kennen wie mich selbst, ich weiß nun, was in Ihm vorgeht. Er ist
nicht von Grund auf schlecht, so wie ich nicht von Grund auf gut bin. Wir sind
beide nur zwei Seiten derselben Medaille.«
Langsam nickte
Mike. Er blinzelte, als der Regen ihm vom Haaransatz in die Augen lief. Noch
immer schwieg er. Offensichtlich war er kein sonderlich gesprächiger Zeitgenosse.
»Wirst du mir
nun über dich erzählen?« Unverhohlen starrte ich ihn an. Es störte mich nicht,
dass ich jedes Detail seines männlichen Körpers erkennen konnte. Scham und Scheu
waren mir fremd geworden. Es gab so viel wichtigere Aufgaben, als die Etikette
zu wahren.
Mike seufzte,
lange und tief. »Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es tatsächlich an der
Zeit, das Schweigen zu durchbrechen. Und da du nun zu uns gehörst, sehe ich
keinen Grund, dich im Dunkeln zu lassen. Ich werde dir erzählen, was geschah.«
Er schöpfte erneut nach Atem, schien sich sammeln zu müssen. Ich hatte das
Gefühl, als würde er nun Dinge erzählen, die er noch keinem Menschen zuvor
anvertraut hatte. Er hatte viele Diener, doch sie waren den Wölfen
gleich – sie schlossen sich zusammen, um großes Wild zu reißen, doch in ihrem
Herzen blieben sie einsam, hart und unerbittlich. Hunger und Tod verbanden sie,
und dies war der einzige Grund, weshalb sie sich nicht gegenseitig an die Kehle
gingen.
Irgendwo in der
dunkel daliegenden Stadt vor uns ertönte ein spitzer Schrei, der dann abrupt
abbrach. Donner rollte zum wiederholten Mal über unsere Köpfe hinweg. Es
wunderte mich nicht, dass wir uns nun schon seit einiger Zeit durch die Straßen
bewegten, ohne dass uns eine Menschenseele begegnete. Viele waren tot, andere,
die es bald sein würden, schlossen sich verängstigt in ihren vier Wänden ein.
Die Zeit lief ab.
»Ich bin kein
schlechter Mensch.« Mikes Augen fixierten mich unvermittelt, ein Blick, unter
dem ich schauderte. »Das war ich nie. Ich liebte meinen Bruder. Meine Eltern
waren blind und fantasielos, aber auch sie liebte ich, auch wenn ich das nicht
immer wusste. Als Er mich rief, hatte ich niemals zuvor einem Menschen
ernsthaft Schaden zugefügt.«
Ich nickte
knapp, denn ich verstand, dass es ihm wichtig war, dies klarzustellen.
Nachdem er sich
mit einem Schnauben das feuchte Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, fuhr er
fort. Eine Gänsehaut hatte sich auf seinen nackten Unterarmen gebildet. »Ich
weiß nicht, ob du jemals Seinen Ruf zu hören bekommen hast. Es ist eine
allmächtige, verlockende Stimme, die tief in deinem Inneren erwacht, dich
vorwärts zieht. Sobald diese Stimme in dir erklungen ist, ist es vollkommen unmöglich,
ihr zu widerstehen. Ich fragte mich nicht, woher sie kam oder was sie wollte,
ich folgte ihr ganz einfach. Es muss etwa Mitternacht gewesen sein, als ich
mich aus der Wohnung stahl. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, lief ich durch
die Stadt, barfuß und in Shorts. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, doch
wahrscheinlich dauerte es eine Stunde, bis ich den Treffpunkt erreichte.«
»Den
Treffpunkt?«
Ein weiterer
Schrei erklang, diesmal deutlich näher. Wie zur Antwort erscholl ein gackerndes
Lachen.
»Den Ort, an
dem sich Seine Anhänger einfanden. Oder jene, die es bald sein würden.«
Mike grinste humorlos. »Neben mir befanden sich noch etwa hundert andere
Menschen dort, alle vermummt, in lange, schwarze Kutten gehüllt. Da kam ich mir
in meinen Unterhosen plötzlich ziemlich fehl am Platz vor. Irgendein Kerl, ich
kenne seinen Namen nicht, drückte mir hastig ein Bündel Stoff in die Hände, und
als ich es entfaltete, stellte ich fest, dass es sich dabei um einen
Kapuzenumhang handelte. Ich schlüpfte dankbar hinein.
Es dauerte
nicht lange, und der Raum war voll mit Menschen und Tieren. Zwischen unseren
Beinen drängten sich jede Menge Ratten, über unseren Köpfen flatterten Krähen.
Heute weiß ich, dass das jene Diener waren, die ihre menschliche Gestalt
verleumdeten – manche
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