Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
dem
Schwarzhaarigen vorbei zur Tür. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken,
welchem neuerlichen Wunder diesmal die Rettung meines Lebens zuzuschreiben war.
Stattdessen dankte ich allen Mächten dieser Erde dafür, hetzte aus dem Raum und
schlug die Tür so wuchtig hinter mir ins Schloss, dass die Wand sacht erzitterte.
Mein Kopf fuhr so rasch von einer Seite zur anderen, dass mein Haar mir
schmerzhaft ins Gesicht peitschte, und bald entdeckten meine wild suchenden Augen
einen einsam im Flur stehenden Stuhl, den ich vor die Tür stellen und unter den
Knauf klemmen konnte. Dahinter erhob sich ein ohrenbetäubendes Gebrüll, und ich
hörte, wie Stühle, Tische oder beides auf den Boden krachten und Holz barst.
Als
ich auf die Treppe zustürmte, wurde ich bereits von einem lodernden
Flammeninferno in Empfang genommen.
Kapitel IV
Die Dämmerung brach
bereits herein, und die Sonne tauchte das Land zu seinen Füßen in die Farbe
geronnenen Blutes. Der Hügel, von dem Hiroshi Taoyama nun auf jenes ebenso beängstigende
wie schöne Panorama herabsah, ermöglichte es ihm, die gesamte rot glühende Stadt
zu überblicken, ohne indes von einem der Stadtbewohner selbst gesehen zu
werden. Es gab nur einen einzigen, gangbaren Weg, über den man den Hang
erreichen konnte, und dieser war so dicht von Farnen und Wurzeln verwachsen,
dass man ihn nicht entdeckte, wenn man nicht von seiner Existenz wusste. Aus
diesem Grund, so hatte es ihm sein Vater erklärt, verirrten sich nur äußerst
selten Menschen hierher. Selbst wenn eine vom Weg abgekommene Wandergruppe den
Zugang zufällig entdeckt hätte, war es sehr unwahrscheinlich, dass sie den
steilen, beschwerlichen Weg in Kauf nahm, ohne zu wissen, was sie oben erwarten
würde. Aus diesem Grund war dies hier ein Flecken unberührter Natur,
unangetastet von der vernichtenden Hand der Zivilisation. Hier schien die Zeit
stillzustehen.
Ein
passender Ort, um die Ewigkeit zu verbringen.
Taoyama
schloss seinen Arm fester um die schlanke Frau an seiner Seite, sodass er
überdeutlich die Wärme ihres Körpers unter seinem Hemd spüren konnte, und fühlte,
wie sie sacht erschauerte, als ihr Blick auf die zahlreichen, knochenbleichen
Steinhaufen fiel, die überall aus dem Grün des Hügels hervorragten. Taoyama
seufzte schwer bei diesem Anblick.
»Sind
das Gräber?«, hauchte Maria an seinem Ohr.
Taoyama
nickte, dann schüttelte er in derselben Bewegung den Kopf. »Manche davon«,
sagte er mit gesenkter Stimme. »Aber viele dieser Denkmäler sind nichts als –
nun ja, Denkmäler. Man hat nicht alle gefunden, bis heute nicht.«
»Ob
meine Eltern auch hier liegen?« Ihre manikürten Fingernägel gruben sich fest in
sein Hemd, schabten über die Haut darunter.
»Wahrscheinlich.
Aber wir werden sie nicht finden. An diesem Ort gibt es keine Namen. Im Tod
sind wir alle gleich.«
»Und
werden alle vergessen.« In Marias Stimme schwang Zorn mit, und Taoyama konnte
sie sogar ein wenig verstehen – wenn auch nur aus Empathie. Sein Vater hatte
damals zu den wenigen Glücklichen gehört, die die nahende Bedrohung erkannt und
rechtzeitig das Land verlassen hatten, bevor es schlimmer geworden war. Er hatte
seine Familie zusammengepackt und war zurück in seine Heimat gekehrt, nach Osaka,
und hatte auf diese Weise sich selbst, seiner Frau und seinem Sohn mit großer
Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet. Taoyama war damals nichts weiter gewesen
als ein Grünschnabel und konnte sich kaum mehr an die damaligen Vorkommnisse
erinnern. Als er diese Geschichte das erste Mal in ihrer Vollständigkeit gehört
hatte, war ihm das Wort »Feigling« durch den Kopf gezuckt, aber nun schämte er
sich für diesen Gedanken. Sein Vater hatte richtig gehandelt – hätte er nicht
den Rückzug angetreten, müsste Taoyama nun vielleicht ebenfalls ratlos den
Blick über diese nichtssagenden Steinhaufen wandern lassen, auf der Suche nach
einem Felsen, unter dem der vermodernde Leib seines Vaters begraben lag – oder
nur die Erinnerung an seinen Tod.
Taoyama
und Maria waren stehen geblieben. In der Ferne konnten sie einige in Schwarz
gekleidete Gestalten ausmachen, die sich gebückt über den Hügel bewegten und
sich manchmal gedämpft unterhielten. Sie hätten sich zu ihnen gesellen sollen,
doch noch genoss Taoyama die ruhige Zweisamkeit.
»Es
sind so viele«, flüsterte Maria an seinem Hals.
Taoyama
nickte. Er wusste, dass sie noch immer von den Grabmalen sprach.
»Nana
hat mir erzählt, dass es
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