Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
Ratte
trotz allem weiterhin fest umklammert hielt.
Dann
brach der Mann seinem Gefangenen mit einer einzigen Bewegung das Genick. Maria,
die mittlerweile wieder an ihn herangetreten war, schützend an sich gepresst,
spürte Taoyama deutlich den Ruck, der durch ihren Körper lief, als das trockene
Knacken ertönte, mit dem Wirbel splitterten. Der Leib der Ratte fiel schlaff zu
Boden und landete mit einem dumpfen Aufprall im Gras. Gebrochene Rattenaugen starrten
fahl in die Menge, die pietätvoll den Blick senkte. Jeder einzelne der an die
dreißig Menschen verabscheute Gewalt, obwohl sie sich einfach nicht vermeiden
ließ.
Maria
wimmerte leise, und auch Taoyama spürte einen schmerzhaften Kloß in seinem
Hals, der ihm die Luft abdrückte.
Der
Mann mit der grauen Strähne senkte bedauernd den Kopf. »Sein Körper ist
zerstört, aber seine Seele ist gereinigt. Er kann diesem unschuldigen
Wesen nicht länger schaden.«
»Was
steht uns bevor?«, verlangte eine Frau mit umständlich geflochtenem, blonden
Haar zu wissen. »Es muss sich um etwas wahrhaft Großes handeln, wenn selbst Er nach annähernd zwei Jahrzehnten wieder aus seinem Loch gekrochen kommt, um uns
von Neuem heimzusuchen.«
»Es
ist wahr«, pflichtete ihr die rothaarige Russin bei. Ihre Stirn glänzte vor
Schweiß, und ihr Atem ging abgehackt und keuchend. »Diese Menschen haben ein
Recht darauf, zu erfahren, worauf sie sich einlassen, und jedem sollte es
freistehen, zu gehen.« Bei diesen Worten ruhte ihr Blick auf der ältlichen
Dame, auf deren eingefallenen Wangen hektische, rote Flecken erschienen waren,
die sie überraschend jung wirken ließen.
Zuerst
reagierte der Redner nicht, sondern betrachtete bloß weiterhin den toten Körper
der Ratte, deren Kopf nun schief auf den Schultern saß. Dann nickte er zögerlich.
»Das ist wohl richtig«, sagte er langsam. »Niemand soll mir nachsagen, ich
hätte meinen Geschwistern keine Wahl gelassen.« Er seufzte leise. »Was ich euch
zuvor mitteilen wollte, war nichts weiter als das, was die Menschheit bereits
lange weiß. Wir sind uns dessen bewusst, dass wir nicht immer so gehandelt
haben, wie wir hätten handeln sollen, dass wir im Laufe der Evolution Fehler
ohne Ende begangen haben, die wir mit nichts auf der Welt wieder korrigieren
können. Meine Freunde, bald ist der Tag gekommen, an dem wir unsere Rechnung
begleichen müssen.« Er deutete mit einer weit ausholenden Geste beider Arme auf
den Himmel, der dunkelrot glühte, und erhob die Stimme. »Eine große Veränderung
steht bevor, eine wahrhaft große Veränderung! Die Welt balanciert am Abgrund
entlang, die Realität wird ihre Gültigkeit verlieren. Die Apokalypse ist nahe!
Nicht das Ende der Welt, aber zweifelsfrei das Ende der gesamten Menschheit
steht uns bevor!«
Kapitel V
In wenigen Sekunden
hatte die Hitze innerhalb des Treppenhauses drastisch zugenommen. Die Flammen
leckten bereits zu mir empor, versuchten mich mit ihren heißen, langen Fingern
zu fassen, doch noch erreichten sie mich nicht.
Hektisch
warf ich einen Blick über die Schulter zurück, um mich zu versichern, dass die
Tür, hinter welcher der Schwarzhaarige wie ein Rasender tobte, noch immer fest
verschlossen und verbarrikadiert war. Obwohl der Stuhl, den ich unter die
Klinke geklemmt hatte, heftig wackelte, hielt er stand. Danach wandte ich mich
wieder der Treppe zu, die im hungrigen Orange der sie erklimmenden Flammen
glühte. Mit erzwungener Ruhe berechnete ich meine Chancen, heil das untere
Stockwerk zu erreichen, und kam zu dem Ergebnis, dass sie nicht einmal schlecht
standen. Schließlich waren meine Kleider noch immer nass von dem überraschenden
Regenguss, was mir einen unverhofften Vorteil einbrachte. Was jedoch jenseits
der Treppe auf mich wartete, konnte ich nicht einmal erahnen – vermutlich ein
noch größeres Flammenmeer, aus dem es kein Entrinnen gab.
Es
hatte keinen Sinn, sich den Kopf zu zermartern. Wenn ich nicht sofort handelte,
würde es kein Später mehr geben, und dann hätte ich es nicht einmal versucht.
Mit
den Händen tastete ich nach dem Geländer, dessen Holz warm zu pulsieren schien
wie ein lebendiges Tier. Mit einem Mal wirkte die Treppe geradezu aberwitzig
steil, und durch den dichter werdenden, schwarzen Rauch war es mir unmöglich,
bis auf den Grund zu sehen. Das Prasseln der Flammen war mittlerweile deutlich
zu hören.
»Dann
mal los«, murmelte ich zu mir selbst und begann den Abstieg.
Wie
ein Blinder tastete
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