Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
mir war auch klar, dass sie dort meine Personalien überprüfen würden. Dann plante ich, nach Lund zurückzufahren, die Stadt ist groß, dachte ich, und vielleicht kann man sich dort leichter irgendwo reinschleichen … was weiß ich … aber da begannen die ersten Wehen … es tat so wahnsinnig weh, sie kamen schubweise den ganzen Tag über. Ich wagte es also nicht, das Auto zu nehmen und allein die 300 km zurückzulegen. Und den Bus zu nehmen und auf die Bahn umzusteigen, das kam mir noch fürchterlicher vor. Und dann …«
Ihre Stimme wurde leiser. Sie weinte nicht mehr.
»Und dann was?«, fragte Claesson.
»Jeden Abend machte ich einen Spaziergang. Ich wartete immer, bis es draußen dunkel war, damit mich niemand sah. Ich musste einfach mal raus und frische Luft schnappen. Wir wohnen im Allévägen. Ich ging also Richtung Friedhof. Ich meine den Westfriedhof. An jenem Abend ging ich nur eine halbe Runde, denn plötzlich schien etwas in mir zu platzen, und das Wasser lief mir die Beine runter. Ich wusste natürlich, was das war, hatte aber keine Ahnung, wo ich hinsollte … ich ging also einfach auf den Friedhof, weil es so wahnsinnig weh tat. Ich versteckte mich dort, bis die Schmerzen sich etwas gelegt hatten und ich nach Hause gehen konnte. Es war schließlich nicht so weit, nur einen Block. Dann brachte ich nur wenige Stunden später zu Hause das Kind zur Welt …«
Louise und Claesson hörten aufmerksam zu.
»Es ging in der Tat recht schnell. Sie schrie sofort. Ich hatte mir einiges angelesen und wusste, dass ich die Nabelschnur abbinden musste. Ich behielt sie einen Tag lang, stillte sie. Dann musste ich am Montag nach Lund zurückfahren, ich stellte sie also am Sonntagabend ab. Und das war furchtbar!«
Ihre Stimme zitterte. Sie schaute auf ihre Finger mit den hellrosa lackierten Nägeln und knüllte ein weiteres Taschentuch zusammen. Claesson und Louise wechselten einen raschen Blick.
An der weißen Tafel hing ein Passfoto von Jörn Johansson. Daneben die Personenbeschreibung der Frau, die er möglicherweise in der Södra Fabriksgatan mitgenommen hatte, sowie eine Kopie des Trösterzettels.
Wer war sie? Und wer war der Tröster?
Martin Lerde hatte eine Kaffeepause eingelegt. Im Gang war es still. Er hätte immer noch gern gewusst, was in Claessons Büro gerade besprochen wurde, aber das würde er noch früh genug erfahren. Peter Berg hatte soeben das Präsidium verlassen, doch für den Feierabend war es noch zu früh. Er hatte Martin allerdings nicht gebeten, ihn zu begleiten.
Egal, es hatte keinen Sinn, sich über einen schwulen Polizisten den Kopf zu zerbrechen. Immerhin waren die Gedanken frei. Seine Zunge hielt er im Zaum. Leider musste er zugeben, dass Peter Berg trotz allem recht normal wirkte. Dennoch hatte er vor, bis auf weiteres Abstand zu wahren.
Er ging in sein Büro, nahm den Zettel und begann die erste Nummer zu wählen.
Sekretärin Gunilla Åhman saß in ihrem Büro auf der Chirurgischen. Ein hagerer Mann stand vor ihr in der Tür.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und schaute ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an.
Peter Berg nannte seinen Namen und bat darum, mit dem Chefarzt sprechen zu dürfen.
»Leider ist der erst nach Neujahr wieder hier. Er hat Urlaub und besucht seinen Sohn in Australien.« Diese Mitteilung sollte unterstreichen, wie vollkommen unmöglich es war, ihn zu erreichen.
Es war ihr anzusehen, dass sie es sofort bereute. Vor allen Dingen das mit dem Sohn. Es gab keinen Grund, detaillierte Auskünfte über den Chefarzt zu erteilen.
»An wen könnte ich mich sonst wenden? Wer trägt hier im Augenblick die Verantwortung?«
»Oberärztin Else-Britt Ek. Soll ich sie rufen?«
»Ja, danke.«
Sie wählte eine Telefonnummer. Peter Berg fragte sich, ob er jetzt wieder so lange warten musste wie am Vormittag bei Drott Engineering. Aber Frau Ek würde sofort kommen.
Eine Minute später stand eine Frau mittleren Alters vor ihm. Sie war recht klein und hatte den längsten Zopf, den er je gesehen hatte.
»Wir können in mein Büro gehen«, sagte sie.
Sie gingen zwei Zimmer weiter.
»Und womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie vollkommen unerschrocken, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Er brachte sein Anliegen vor.
»Merkwürdig«, meinte sie nachdenklich.
Peter Berg wartete darauf, dass sie sonst noch etwas sagen würde.
»Ich hatte frei, als es zu diesem bedauerlichen Vorfall kam, aber ich bin natürlich informiert.
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