Lust kennt kein Tabu
einer – offenbar unvermeidlichen – Überdosis Heroin hatte Tabitha in einer Klinik um ihr Leben gekämpft und anschließend einen Entzug gemacht. Doch sie war nicht von den Drogen losgekommen. Zienna versuchte, ihr mit drakonischen Maßnahmen zu helfen. Das brachte Tabitha so sehr in Wut, dass sie Chicago verließ. Seither hatte Zienna nichts mehr von ihr gehört, nahm aber an – und hoffte inständig, ihre Schwester würde noch leben. Andernfalls wäre sie als nächste Angehörige von den Behörden informiert worden.
„Wirklich, ich kann selber auf mich aufpassen“, behauptete Alexis.
„Das weiß ich.“ Zienna erwähnte nicht, man könne sehr leicht vom gesunden Verstand in die Unzurechnungsfähigkeit schlittern. Wie Tabitha …
Nein, sie wollte nicht mehr an ihre Schwester denken. Besonders jetztnicht, elf Tage vor dem zehnten Todestag ihrer Eltern. Mit jedem Jahr fiel es ihr schwerer, dieses bedrückende Datum zu bewältigen. Denn sie hatte nicht nur Vater und Mutter verloren, sondern auch ihre vier Jahre jüngere Schwester. Vor acht Jahren hatte Tabitha sie aus ihrem Leben verbannt.
Ob sie inzwischen gestorben war, wusste Zienna trotz aller Hoffnung nicht. Diese schmerzliche Ungewissheit meisterte sie nur, weil sie eine Mauer um ihr Herz errichtet hatte und einfach glaubte, es würde ihrer Schwester irgendwo gut gehen. Vielleicht mit einer eigenen Familie.
Zienna stand vom Sofa auf, ging zum Fenster und öffnete es.
Stöhnend blinzelte Alexis ins aggressive Sonnenlicht. „Willst du mich umbringen?“
„So ein schönes Wetter! Verdammt will ich sein, wenn wir den ganzen Tag hier herumhängen und Trübsal blasen!“ Zienna stemmte ihre Hände in die Hüften. „Unternehmen wir was. Irgendwas. Vergessen wir die Männer und alle Dramen. Wenigstens für ein paar Stunden. Wie wär’s mit einer Pediküre und – noch besser – mit einer Massage? Du musst es nur sagen, und ich rufe unser Lieblings-Spa an.“
Alexis’ Stirnfalten begannen sich zu glätten. „Pediküre? Massage?“
„Auf meine Rechnung. Wenn ich für heute Nachmittag einen Termin kriege.“
„Also gut, ruf an. Wahnsinn, wie hartnäckig du bist!“
„Deshalb liebst du mich so sehr.“ Zienna lächelte zuckersüß und nahm ihr iPhone aus der Handtasche.
18. KAPITEL
Den ganzen Samstag hatte Wendell sich nicht gemeldet und Zienna damit in einen noch schlimmeren seelischen Konflikt gestürzt. Offenbar musste sie Alexis recht geben – sie empfand immer noch etwas für ihn.
„Jetzt ist es offiziell“, flüsterte sie am Sonntagmorgen, als sie ihre wöchentliche Joggingtour um den See herum machte. „Du bist verrückt.“
Gewiss, sie hatte Wendell gesimst, er solle vergessen, was passiert war. Doch das wollte sie eigentlich nicht. Wenn sie ihm wirklich etwas bedeutete – müsste er sich nicht trotz dieser SMS bei ihr melden? Würde er kampflos aufgeben?
Zienna nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Dann wischte sie ihre Stirn ab. Es war ein schöner Tag, der Himmel klar, die Sonne strahlend hell, Anfang Mai noch nicht zu heiß. Könnte sie die blühenden Bäume ringsum bloß genießen, das Vogelgezwitscher, die traumhafte Aussicht auf den See mit den zahlreichen Segelbooten …
Er hat bekommen, was er wollte, sagte sie sich, während sie mit schnellen Schritten dem Weg nach Süden folgte. Wendell war ein Spieler. Und er hatte nur mit ihr gespielt. Punkt. Also gab es keinen stichhaltigen Grund, warum sie ihm eine Rückkehr in ihr Leben gestatten sollte.
Aber es war zweierlei, etwas zu erkennen – und es ihrem Herzen klarzumachen …
Zienna passte sich dem Rhythmus eines Mannes an, der vor ihr rannte und sie zu einem schnelleren Tempo herausforderte, als sie es gewöhnt war. Obwohl sie sich anstrengen musste, gelang es ihr, den Pfad bei der East Cedar Street in einer neuen Rekordzeit zu erreichen. Und danntraute sie ihren Augen kaum. Da vorn sah sie jemanden am Rand des Weges stehen und in ihre Richtung schauen.
Oh, mein Gott – Wendell?
Sofort pochte ihr Herz auf Hochtouren.
Als sie sich dem Mann näherte, ging er ihr ein paar Schritte entgegen, und da gab es keinen Zweifel mehr – er war es.
Ihre Beine kamen aus dem Rhythmus, sie verlangsamte ihr Tempo. Dann verließ sie den Weg. Im Schatten einer Eiche starrte sie Wendell verwirrt an und rang nach Luft.
„Gerade wollte ich mit dir laufen“, erklärte er und lächelte unbefangen.
Zienna inspizierte sein enges schwarzes T-Shirt, die schwarzen Nylonshorts.
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