Lustig, lustig, tralalalala
«Sehr geehrter Herr Broich, anbei finden Sie für die Weihnachtstage eine Auswahl unseres aktuellen Verlagsprogramms. Vielleicht habenSie ja Lust, über den ein oder anderen Titel etwas zu machen. Herzliche Grüße, Ihre Annika Arweiler.»
Na toll.
Jetzt sind es 504 Bücher, die vor Jahresfrist noch ungelesen sind. Der Arweiler Verlag ist ein Kleinverlag, man muss seine Titel nicht rezensieren. Aber das spielt keine Rolle. Ich bin ein Vor-Weihnachten-alles-fertig-haben-Woller. Ich kann nicht anders.
Nachdem ich in dieser Nacht bis 3 : 27 Uhr gelesen habe und auf dem Wohnzimmerboden mit dem Kopf auf dem Brockhaus eingeschlafen bin, wache ich gegen sieben auf und verspüre plötzlich einen schrecklichen Drang. Er wirkt bereits in mir, noch bevor er als klarer Gedanke in mein Gehirn steigt, und ich kann ihn nicht fassen, da ich niemals gedacht hätte, dass sich meine Neurose noch steigern lässt. Ohne Dusche, Kaffee oder Sockenwechsel springe ich auf, haste in die Garage, reiße die Schraubenschublade auf, blicke auf die vielen kleinen Fächer mit Schlitz, Kreuz und Sechskant in rund 30 verschiedenen Größen und weiß, dass ich es tun muss. Dass es nicht anders geht. Ich überlege kurz, meine Frau anzurufen und sie zu bitten, mich aufzuhalten, aber ich kann nicht. Es könnte passieren, dass sie mich tatsächlich aufhält. Also fange ich lieber an.
Gegen 10 Uhr – meine Hände haben bereits Schwielen – steht Hermann wieder in der Garagentür.
«Mrrruoooooooom.»
Ich reagiere nicht, da ich zu tun habe.
«Was gibt das denn, wenn’s fertig ist?», fragt Hermann und betritt ungefragt die Garage. Auf der Werkbank stehen, hochkant an die Wand gelehnt, bereits fünf Bretter, in die jeweilsan die 150 Schrauben hineingebohrt wurden. Da dies absolut keinen Zweck hat, habe ich die Schrauben zu Symbolen angeordnet, um die Bretter so als Kunst durchgehen lassen zu können. Ein Jesuskreuz, ein Pikass, eine Acht, ein Fußball und ein Mercedes-Stern zieren die Bretter.
«Die Schrauben müssen weg», sage ich und schere mich nicht mehr darum, wie wahnsinnig sich das anhört. Ich hätte auch einfach sagen können, dass ich einige Skulpturen für die kommende Documenta anfertige, aber meine Kraft reicht nur noch aus, um die Wahrheit zu sagen: Die Schrauben müssen weg.
«Wie bitte?»
Ich wedele mit der Hand in Richtung der Schraubenschublade, die sich bereits beeindruckend geleert hat: «Ja. Diese Schrauben da. Die müssen weg. Alle! Im neuen Jahr fange ich von vorne an!»
Hermann ist sprachlos.
Das erste Mal.
«Ja, was?», sage ich, lauter als gedacht, und er hebt die Hände offen vor die Brust und verlässt rückwärts mit langsamen Schritten die Garage.
Um 23 : 30 Uhr habe ich alle vorhandenen Schrauben ins Holz gebracht. Die Schraubenschublade ist nun leer, und auf der Werkbank stehen insgesamt 12 Bretterskulpturen. Ich lege mir eine Packung Knäckebrot von Januar, zwei angefaulte Birnen, einen Porree und eine alte Dose Pflaumenmus aufs Tablett, weil das alles dringend wegmuss, sinke erschöpft auf die Couch neben den 504 ungelesenen, auf dem Boden gestapelten Büchern und mache den Fernseher an. In einem Bericht sieht man, wie ein Mann mit hochrotem Kopf seinen Computer zertritt.Ein anderer rennt schreiend um sein Auto, das mit offener Motorhaube im Regen steht. Schnitt in eine Arztpraxis, wo sich diese Männer einen Krankenschein holen. Sie sprechen holländisch. Der Moderator erklärt: «In den Niederlanden wird ‹Wut durch Technik› mittlerweile von den Kassen und den Arbeitgebern als Krankheitssymptom anerkannt. Ich horche auf und hebe den Kopf über dem Teller, den ich mir knapp unters Kinn halte, weil der faule Saft der alten Birne bei einem tieferen Runtertropfen gar nicht mehr unten ankäme. Ich erinnere mich daran, was mein Nachbar Hermann mir gestern erzählt hat: «Dem Senfke haben sie diesen Sommer seinen Giebel gestrichen, weil er achtzig Prozent Schwerbehinderung hat. Du musst nur was haben, schon kannst du dir einen Gemütlichen machen.» Ich überlege, kaue den Birnenbissen zu Ende, habe eine Idee und stelle langsam den Teller ab. Ich lächle böse, obwohl es niemand sehen kann.
***
Im Wartezimmer von Dr. Schlottmann hängt ein Werbekalender des örtlichen Bauunternehmens. Das rote Quadrat zeigt den 16. Dezember an. Alle kennen sich hier untereinander. Firmenbesitzer, Ärzte, Lehrer, Landschaftsgärtner, Automechaniker, Vereinsvorsitzende. Ist man
Weitere Kostenlose Bücher