Lustig, lustig, tralalalala
jung genug, ist man im Kader der Berzirksklassen-Fußballmannschaft. Ist man älter, schießt man den Vogel ab oder golft zu Menschenpreisen oben auf der Anlage am Schloss, wo die Schriftstellerin wohnt.
«Boah, ist ganz schön frisch geworden», sagt eine Wartende zu ihrer Bekannten, die eine Ausgabe der
Gala
in der Hand hält, auf deren Titelbild Brad Pitt immer weiter hinter seinem Bart verschwindet.
«Aber besser diese klare Kälte als dieses Feucht-Nasse», erhält sie als Antwort.
«Herr Broich, kommen Sie?», sagt die Sprechstundenhilfe. Ich stehe auf und bin ein wenig nervös, als ich durch den schmalen Flur zum Sprechzimmer schreite. Wann kommt es schon mal vor, dass man von seinem Hausarzt eine Überweisung an einen Psychiater erbittet, der das unerbittliche «Vor-Weihnachten-unbedingt-alles-fertig-haben-Wollen» als ernsthafte Krankheit anerkennen lässt, so, wie es die Holländer mit «Wut durch Technik» geschafft haben? Doch ich habe Hoffnung. Dr. Schlottmann tut zwei Dinge sehr gerne: nähen ohne Betäubung und den Staat ausnehmen. Zu nähen habe ich für ihn nichts, aber gelänge mir mein Vorhaben, müsste der Staat zahllosen Männern wie mir kostenlose Helfer in der Vorweihnachtszeit beiseitestellen, ganz so, wie er beim Senfke den Giebel streichen lässt.
Ich habe Erfolg.
Nur zehn Minuten später verlasse ich die Praxis mit einer Überweisung von Herrn Dr. Schlottmann an seinen Kollegen Herrn Dr. Gorlek. Dessen psychotherapeutische Praxis liegt efeuumwachsen am Feldrand in der Bauerschaft und ist dafür bekannt, ungewöhnliche Methoden anzuwenden. Gorleks Spezialität ist die von ihm markenrechtlich geschützte «Aktive Energierückgabe», kurz AER. Hierbei analysiert der Patient sämtliche Äußerungen und Verhaltensweisen seiner Mitmenschen auf die Energien hin, die ihm gegenüber schädlich scheinen, filtert sie wie Schwebstoffe oder Teichalgen heraus, zwingt sich zu einem Lächeln und sagt: «Diese Energie gebe ich freundlich an Sie zurück.» Eine Methode, über die in der Lokalzeitung bereits viel berichtet wurde und die bei Schwiegermütternangenehme Irritationen hervorruft, bei Halbstarken auf der Straße aber nur selten funktioniert. Auf dem Schreibtisch von Dr. Gorlek steht ein winziger, plätschernder Springbrunnen. An der Wand hängt das alte Schwarzweißfoto eines asiatischen Kampfsportlers, der mit merkwürdig verrenkten O-Beinen vor der Kamera steht und die Hände wie einen Keil nach vorne schiebt. Wären vor ihm ein paar Büsche abgebildet, könnte man meinen, er hätte auf einem Rasthof kurz einmal groß austreten müssen. Im Regal hinter dem Schreibtisch stehen dicke Fachbücher sowie zehn verschweißte Ausgaben von Gorleks eigenem Werk «Umleitung – Erfolgreiche Konfliktvermeidung durch Energierückgabe».
Dr. Gorlek wird mich und mein «Vor-Weihnachten-unbedingt-alles-fertig-haben-Wollen»-Syndrom verstehen.
Nach einer kurzen, rund vierstündigen gesprächstherapeutischen Anamnese macht er einen Test, um die Ernsthaftigkeit meines Zwanges zu überprüfen. Er geht in sein Nebenzimmer, zerrt dort irgendetwas Schweres aus einem Schrank, kommt wieder und stellt mir eine 2 5-bändige Goethe-Gesamtausgabe aus dem Bücherclub vor die Nase.
«Schenk ich Ihnen», sagt er. «Gehört Ihnen, noch dieses Jahr!»
Ich springe vom Stuhl auf und winke schreiend ab, als hätte er in der Konfrontationstherapie eine Tarantel auf den Tisch geworfen. «Nein! Nicht noch dieses Jahr! Nächstes Jahr vielleicht. Ich habe noch 504 Bücher, die ich schaffen muss! Neeeeeiiiiin!!!» Mein eigener Gefühlsausbruch wundert mich. Ich sinke neben dem austretenden Asiaten zu Boden und wimmere, während Dr. Gorlek Notizen macht. Er sagt: «Ich stelle Ihnen jetzt noch fünf Fragen. Beantworten Sie mindestens vier davon mit ‹Ja›, werde ich Ihr Syndrom mit Sicherheit noch diesesJahr als ernsthafte Neurose bei der Krankenkasse durchkriegen. Und später auch als komplett eigene Krankheit beim Staat. Das dauert lediglich etwas.»
«Okay», sage ich, auf dem Laminat hockend.
«Haben Sie schon mal daran gedacht, jeden Ort in Ihrem Atlas nachzuschlagen, weil der sonst nicht als komplett gelesen gelten könnte?»
«Ja.»
«Essen Sie vor Jahresfrist verdorbene Lebensmittel, weil die alle noch wegmüssen?»
«Ja.»
«Nehmen Sie vor Jahresfrist eine Unmenge von Medikamenten, die Sie gar nicht brauchen, weil die Pillenschublade leer werden muss?»
«Nein», sage ich, schluchze
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