Lustig, lustig, tralalalala
klagte, und ich rechne es ihr hoch an, dass sie sich trotz meines nicht enden wollenden wehmütigen Salbaderns auf mich einließ. Diese Frau sollte ich nicht gehen lassen. Tat ich auch nicht. Kurz darauf kamen wir zusammen. Und da sich die Schwangerschaft als Fehlalarm herausstellte, löste sich auch meine mögliche Vaterschaft in Wohlgefallen auf.
Und jetzt, fast zwei Jahre später, war es wohl tatsächlich an der Zeit, ihre Familie auf die härteste und intensivste Art und Weise kennenzulernen, mit der man Einblicke in die menschliche Psyche bekommen kann: ein gemeinsames Weihnachtsfest.
«Ah, da sind sie schon», sagte Kerstin und zeigte auf ein Haus, in dessen Eingang zwei schemenhafte Gestalten warteten, die im gleißenden Umgebungslicht nur als Umrisse zu erkennen waren. Wie sie unser Hybrid-Auto hatten hören können, warmir ein Rätsel. Entweder hatten sie bereits den halben Abend vor der Tür ungeduldig auf uns gewartet oder waren zufällig im richtigen Augenblick zum Luftschnappen vor die Tür gekommen. Letzteres schien mir unwahrscheinlich; die Vorfreude war körperlich spürbar.
Das war also das Haus, in dem meine Holde aufgewachsen war. Wobei nicht viel vom Gebäude zu erkennen war, denn es fügte sich perfekt in die allgemeine Grübelheimer Weihnachtskosmetik ein. Es sah aus, als wäre die Raumstation MIR genau auf ihm abgestürzt. Es wäre einfacher gewesen, aufzuzählen, was nicht leuchtete. Quer über die Häuserfront zog sich ein Schriftzug in Comic Sans – Comic Sans! –, der allen Betrachtern frohe Weihnachten wünschte und dabei blinkte, als sei Saturday Night Fever erst gestern verfilmt worden. Das wäre doch ein guter Anhaltspunkt für eine Beschreibung gewesen, dachte ich so und konnte trotz ausgiebiger Suche keinen Weihnachtsmann entdecken. Ich parkte den Wagen in der Einfahrt und zog die Handbremse an. Da sah ich ihn. Ein Fensterbild. Ein mickriges kleines Fensterbild inmitten eines elektrischen Feuerwerks. Natürlich beschreibt man einem Suchenden solch ein Haus anhand des einzigen nicht beleuchteten Schmuckbestandteils.
Wir stiegen aus und bahnten uns einen Weg um die im Vorgarten randalierenden Rentiere herum Richtung Haustür. Im schwarzen Loch, der wohl der Eingang zu diesem Palast des Lichts zu sein schien, warteten die zwei dunklen Figuren, die wir eben schon erblickt hatten. Auf halbem Wege zuckte ich zusammen. Aus der Dunkelheit starrten uns zwei rote Augen an. Ich packte Kerstins Arm.
«Jesus, Maria und Josef», flüsterte ich panisch, «ein …»
Ob
Werwolf
,
Vampir
oder
T-600
auf das
ein
folgen sollte, bliebmein Geheimnis, denn wie es schien, hatten sich die Figuren nach Längerem wieder bewegt, das Eingangslicht sprang an und offenbarte Kerstins freudestrahlende Eltern.
«Pupsi, die Kinder sind da», brüllte die Mutter begeistert, als stünde ihr Mann nicht unmittelbar neben ihr, sondern am Ende des Ganges, und zwar dem in Indien. Sie strahlte mich an wie jemand, der hauptsächlich erleichtert ist, dass die Tochter jemanden, irgendjemanden gefunden hatte, alles andere würde sich fügen. Urplötzlich wurde ich weihnachtlich übermannt, ich fühlte mich wohl und freute mich ein bisschen, als sie uns beide in den Arm nahmen und herzten. Dann fragten sie uns, ob wir eine gute Fahrt gehabt hatten, ob alles reibungslos geklappt hatte, der Vater fragte mangels interessanterer Fragen, ob ich denn auch Winterreifen drauf hätte, und ich antwortete halbherzig: «Ja, ja», ich war abgelenkt. Ich konnte den Blick nicht von den Oberteilen von Kerstins Eltern abwenden.
Kerstins Eltern trugen – hoffentlich selbstgestrickte – Partner-Norwegerpullis spazieren, auf deren Brust ein gestickter Rudolf prangte, als sei das Ganze eine Jägermeister-Reklame.
Hoffentlich selbstgestrickt
, denn sollte tatsächlich irgendjemand mit der industriellen Fertigung solch fragwürdiger Mode, die man mit Wham-Videos ausgestorben wähnte, seinen Lebensunterhalt bestreiten, hätte ich sofort der Arbeitswelt abgeschworen und Hartz IV beantragt, dann hätte alles keinen Sinn mehr gehabt. Diese Pullover waren die elektrische Stadt des Mutterstrickuniversums. Und ich wurde das Gefühl nicht los, diese Ungetüme schon mal gesehen zu haben.
Mein Blick fiel Kerstins Mutter auf. Sie interpretierte ihn korrekt und zwinkerte mir zu.
«Richtig, das sind die Pullis von unserer Weihnachtskarte», sagte sie strahlend in einem Tonfall, in dem andere Menschen«Das ist der Sänger der Dire Straits» oder
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