Lustig, lustig, tralalalala
beinahe ungenutzt in der Ecke verstaubt, bevor mein Mitbewohner Toni sie entdeckte und bei eBay verkaufte. Mein Plan war der folgende: Schnell rein in den Laden, die Konsole kaufen, schnell wieder raus und ab zum Flughafen. Doch es kam natürlich anders: Als ich am Bahnhof Akihabara ausstieg, traute ich meinen Augen kaum. Wie auch, waren sie doch spontan erblindet. Der 80er-Jahre-Computerfilm TRON war zum Leben erwacht, entweder, dachte ich, war dies die Hölle und die Flammen des Höllenmeeres brannten neonfarben, oder das Testbild im Telefunken-Fernseher meiner Oma war explodiert und hatte Tokio nuklear verseucht. Ich habe nie vorher und nie wieder so viel Licht aufeinmal gesehen. Ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, dass es mittelfristig gesünder wäre, in die Sonne zu starren, als länger als fünf Minuten durch die elektrische Stadt zu flanieren. Die elektrische Stadt war schlimmer als jede Lasershow im Kino, man stelle sich die Kirmes einer mittelgroßen deutschen Stadt vor, potenziere dessen Lichtspektakel mit dem größten uns bekannten Brennglas, und man hat in etwa einen Eindruck dessen, was meine Augen mit großem Schrecken und absurd geweiteten Pupillen zur Kenntnis nahmen, als ich versuchte, mir einen Weg zurück zum Zug zu bahnen. Dagegen ist der New Yorker Times Square bloß Praktikant. Noch Tage danach fühlte ich mich wie nach dem ersten Skiurlaub mit meinen Eltern, als ich mich geweigert hatte, eine Sonnenbrille zu tragen, und für den Rest der Ferien keinen einzigen Comic mehr lesen konnte. Das Gleißen der bunten Reklametafeln, das grelle Kunstlicht der Elektronikmärkte, die als Anime Figuren verkleideten Jugendlichen, all das war zu viel für meinen europäischen Geist, und als ich wieder zu mir kam, war ich in Paderborn.
Genau jene elektrische Stadt ging mir durch den Kopf, als ich neben Kerstin, meiner Freundin, im Auto saß. Wir waren auf dem Weg zu ihren Eltern, es war der 23. Dezember, und wir würden Weihnachten mit ihrer Familie verbringen. Diese wohnte in einem kleinen Dorf, welches hauptsächlich dafür bekannt war, völlig unbekannt zu sein; nicht mal mein Navigationsgerät hatte es ohne ein umfangreiches und kostspieliges Update orten können. Als wir einen kleinen Hügel überquert hatten, lag Grübelheim im Tal vor uns. Und was ich sah, erinnerte mich derart stark an meinen Besuch in der elektrischen Stadt, dass ich im ersten Augenblick den Impuls unterdrücken musste, Hals über Kopf zu türmen.
Offensichtlich herrschte im Heimatstädtchen meiner Liebsten ein harter Verdrängungswettbewerb an der Häuserschmuckfront. Aus amerikanischen Familienfilmen kannte ich die Tradition, Einfamilienhäuser so zu verkabeln, dass sie selbst aus dem All mit bloßem Auge zu erkennen waren, aber was die Menschen hier vollbracht hatten, hätte selbst alteingesessene Ladenbesitzer in Akihabara die Nase rümpfen lassen. Unwillkürlich schaltete ich das Abblendlicht aus, dabei war die Sonne schon lange untergegangen.
Ich weckte Kerstin, um nach der Hausnummer zu fragen. Sie hatte mir zwar das Haus beschrieben, aber «das mit dem großen Weihnachtsmann» war zumindest in diesem Dorf keine große Hilfe; die Beschreibung hätte nicht nutzloser sein können, wenn sie «das mit dem Dach» gelautet hätte. In diesem Ort gab es keinen Zweifel an der Existenz des Weihnachtsmannes, höchstens an seiner Identität; entweder hatte der echte ein höchst erfolgreiches Franchise-Unternehmen ins Leben gerufen, oder die Bewohner waren einer professionellen Bande von Hochstaplern auf den Leim gegangen. Manche von ihnen hatten Glühwürmchen verschluckt, andere waren offenbar schon einige Jahre im Dienst und hatten eine eher rosafarbene als rote Farbgebung. Auch Rentiere waren stark vertreten. Genauso wie Elfen, Christkinder, Engel, Sterne und E. T. Stopp – E. T.? Ich schaute nochmal genauer hin. Ja. E. T. Oder ein höchst unglücklich modellierter Knecht Ruprecht, da war ich mir nicht hundertprozentig sicher, auch wenn Letzteres im allgemeinen Kontext mehr Sinn machte. Aber all diese Figuren erblassten angesichts des anomischen Lichterglanzes, der von der Weihnachtsdekoration der Häuser ausging. Wenn dieses Dorf eines war, dann das Gegenteil von Stromsparen. Gerade jetzt, da war ich mir sicher, klingelte in Akihabara das Telefon:«Ein Anruf, Sir. Es ist Grübelheim. Die wollen das Namensschild mit der ‹elektrischen Stadt› drauf zurück.»
Kerstin teilte mir die Nummer mit,
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