Lustnebel
machten jene pulsierende Mischung aus, die Rowena jedes Mal auf das Neue faszinierte und überwältigte. Immer wenn sie dachte, von einem Zuviel an Unangenehmem torpediert zu werden, passierte wieder Wundervolles oder Überraschendes, das sie aussöhnte.
Rowena musterte die Auslagen eines Gemischtwarenladens und überlegte, ob sie sich mit Seifen eindecken sollte, die in diesem Geschäft von ganz besonderer Güte waren, als sich ein Reiter in der Scheibe spiegelte. Sie stutzte. Einen Moment lang glaubte sie, Silbermaske zu erkennen. Sie wandte sich um und durchsuchte das Treiben auf der Straße nach dem Maskierten. Natürlich war da niemand. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das Schaufenster und benutzte es wie einen Spiegel. Eine vertraute Gestalt tauchte auf.
Die Erinnerung traf sie wie ein Axthieb. Für den Bruchteil eines Moments erfasste sie eine komplette Lähmung, dann schoss sie herum und suchte die andere Straßenseite nach der Frau ab.
Rowena entdeckte sie, als sie beim Gemüsehändler einige Kartoffeln in ihren Korb legte. Ohne auf Betsys Rufe zu achten, überquerte Rowena die Straße und steuerte zielstrebig die blasse Dienstbotin an. Ganz ohne Zweifel war dies die Angestellte aus dem Haus des Hellfire Club !
Bestimmt wusste sie über etliche Dinge Bescheid und kannte die Identitäten zahlreicher Gentlemen, die sich ungeniert dort vergnügten. Vielleicht konnte sie helfen, Claires Mörder zu identifizieren.
Sie näherte sich der Dienstbotin, ohne nach links oder rechts zu sehen. Über den Straßenlärm hinweg hörte sie Betsy kreischen.
Noch während sie dachte, was für ein albernes Benehmen ihre Zofe an den Tag legte, prallte etwas Hartes gegen ihre Schulter. Ein Pferd wieherte.
Sie stürzte rückwärts und blieb im Straßenmatsch liegen, direkt vor dem Gehweg, dort, wo die Dienerin stand. Leute brüllten, und neben Rowena stieg ein Pferd mit den Vorderbeinen in die Luft. Die Dienerin schrie und dann noch einmal, lauter, durchdringender, als sie die Hufe trafen. Wie erstarrt realisierte Rowena die Geschehnisse, ohne sie wirklich zu begreifen. Sie nahm in Zeitlupe wahr, wie der Korb der Frau Saltos schlug und die Kartoffeln durch die Luft purzelten.
Das Pferd schnaubte unruhig und stampfte und bockte. Rowena blickte auf den Rücken des Reittieres und erkannte eine dunkle Gestalt mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief ins Gesicht gezogenem Hut. Seine matten Stiefel waren zerschunden und schwarz wie das Herz des Teufels.
Ihr letzter Blick traf das tote Dienstmädchen, das mit gräulich blassem Gesicht auf dem Gehsteig lag, Blut sickerte aus Mund und Ohren. Schillerndes Rot auf stumpfem Grau, ein fast perverses Bild, das sich ihr darbot. Ein Anflug Übelkeit überkam Rowena, dann versank ihr Bewusstsein in gnädige Schwärze.
„Um Himmels willen, Betsy! Hör auf, um mich herumzutanzen wie ein aufgescheuchtes Suppenhuhn!“, befahl Rowena unleidlich, während sie versuchte, eine angenehme Stellung zu finden, bei der ihre Schulter nicht mit höllischen Schmerzen reagierte. Zeitweise fühlte es sich an, als bohrte ein Verrückter mit einem glühenden Schürhaken in ihrer Schulter herum. Sie unterdrückte das Stöhnen, das ihre Stimmbänder entlangkroch und räusperte sich, als ihr klar wurde, dass es unmöglich sein würde, den Schmerz schweigend über sich ergehen zu lassen.
Rowena machte eine wedelnde Handbewegung. „Geh, sortier meine Schuten oder die Handschuhe, aber lass mich jetzt allein!“
Aus der Eingangshalle wurden Stimmen laut. Rowena rollte mit den Augen und sah zu Betsy. Die Zofe stand unschlüssig im Raum.
„Nun geh schon! Mit Seiner Lordschaft komme ich allein zurecht“, erklärte sie und war froh, als Betsy ihrer Aufforderung Folge leistete.
Rowena konnte kaum einen Atemzug tun, da flog die Tür auf. Der Knall ließ sie zusammenzucken, und sie zog fragend die Augenbraue hoch.
Chayton betrat den Raum, einzelne Strähnen hatten sich aus seinem sonst so akkurat frisierten Zopf gelöst und hingen wild in sein Gesicht. Seine Augen blitzten aufgebracht, sodass Rowena nervös schluckte.
„Rowena, was ist geschehen?“ Seine sonst so volltönende Stimme klang nach Erkältung, heiser, rau und belegt, als litte er an einer Halsentzündung.
Sie schüttelte den Kopf, senkte den Blick und sah auf seine pechschwarzen Stiefel. Ohne zu verstehen warum, pochte ihr Herz wie verrückt. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch alles, wozu sie fähig war, blieb
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