Lustnebel
die stumme Musterung von Chaytons Schuhwerk. Die Füße kamen näher, und sie bemerkte, dass das Leder stumpf und abgewetzt war. Chayton hockte sich neben sie, sodass er auf Augenhöhe mit ihr war. „Rowena, Ťawíču, bist du verletzt?“
Seine Miene zeigte Besorgnis, und Rowenas ungutes Gefühl machte Zärtlichkeit Platz. Sie verneinte. „Ich habe mir die Schulter gestoßen und die Kleidung ruiniert, als ich in den Straßengraben fiel. Der Doktor hat nach mir gesehen. Es ist nichts, das nicht mit ein bisschen Ruhe und Schonung in Ordnung kommt.“ Rowena schluckte und drängte Tränen zurück, die auf eine Gelegenheit warteten, sie zu überwältigen. „Das Dienstmädchen hatte nicht so viel Glück. Das Pferd hat sie niedergetrampelt, und der Reiter verschwand, ohne sich darum zu kümmern!“ Ihre Stimme brach, und sie war froh, dass Chayton keinerlei Anstalten machte, sie in die Arme zu schließen. Stattdessen sprang er auf. Sein Gesichtsausdruck war wieder jene ausdruckslose Maske, die sie meist zu sehen bekam. Langsam fragte sie sich, ob er überhaupt in der Lage war, zu lachen.
„Diesen Mann, hast du ihn erkannt?“
Rowena runzelte die Stirn. Sie überlegte, ob sie erzählen sollte, dass sie fürchtete, es könnte Silbermaske gewesen sein, dass der Unfall ein Attentat auf das Dienstmädchen des Hellfire Club gewesen war oder auf sie selbst. Weil sie dort gewesen war, und weil sie Claires Mörder suchte. Sie biss sich auf die Lippen und entschied sich dagegen.
„Nein, er trug einen Hut und den Mantelkragen bis über die Nasenspitze“, gab sie zur Antwort. Ein Schluchzen drängte sich ihre Kehle empor. Ein Augenzeuge behauptete, der Reiter habe Rowena beobachtet gehabt, ehe er mit seinem Pferd auf sie zuhielt. Es sei ganz klar ein geplanter Angriff auf sie gewesen.
Der Gedanke, der sich Rowena aufdrängte, war beunruhigend: Sie hatte Silbermaskes Aufmerksamkeit geweckt. Sie musste ihn enttarnen, ihn seiner gerechten Strafe zuführen, bevor er sie erwischte. Sie rang die Übelkeit hinunter, die in ihr aufsteigen wollte.
Chayton wandte sein Gesicht ab und schloss die Augen. Interessiert beobachtete Rowena ihn, bis er sich ihr wieder zuwandte. Seine Stimme klang beherrscht, doch sie spürte unterdrückte Wut.
„Wir reisen ab, noch heute“, beschloss er.
Rowena fuhr hoch, hielt jedoch inne, weil ein heißer Schmerz in ihrem Oberkörper explodierte. „Abreisen? Wohin?“, rief sie aus.
„Auf meinen Landsitz, nach Barnard Hall“, verkündete er.
„An den Lake Windermere? Aber warum so plötzlich?“
„Du brauchst dringend Ruhe und Erholung, davon gibt es in London kaum. Barnard Hall ist genau der richtige Ort dafür“, bestimmte Chayton.
Rowena ließ sich in die Kissen sinken. Verbannt auf das Land. Weit weg von London und jeder Möglichkeit, weitere Nachforschungen zu betreiben. Konnte es schlimmer kommen? Im selben Moment blitzte in Chaytons Augen etwas Berechnendes, Bedrohliches auf, und sie fröstelte. Weit fort von allen, die sie kannte, war sie ihm ausgeliefert. Nur sie und er und vermutlich die Dienstboten des Herrenhauses. Was, wenn Chayton gefährlicher war, als sie fürchtete? Wenn er Geheimnisse verbarg, die all ihre Vorstellungskraft überstieg?
Mit einem Mal schoss ihr dieses winzige Detail durch den Kopf, dass Turnbull Chayton wiederholt Lucien genannt hatte. Das Donnern ihres panikerfüllten Herzens schien den Raum zu füllen.
Die Kutsche rumpelte gemächlich über die Feldwege.
Aus Rücksicht auf Rowenas Verletzung war der Kutscher auf Chaytons Anweisung hin langsamer gefahren und hatte öfter Pausen eingelegt als üblich. Ein Umstand, der ihn übellaunig machte. Auf diese Weise benötigten sie doppelt so lange, ehe sie im Lake District ankamen. Dabei erwies sich diese Vorsicht als überflüssig, schon ab dem zweiten Tag schmerzte Rowenas Schulter kaum noch.
Dafür hatte sie ausgiebig Gelegenheit, die schöne Landschaft zu genießen. Sanfte grüne Hügel, üppige Weiden mit grasenden Rindern und Schafen säumten den Weg, und immer wieder kamen sie an Behausungen und Dörfern vorbei. Manche pittoreske Kleinode, andere wiederum ärmliche Baracken, die Rowena nicht einmal ansehen wollte, weil sie sich in diesen Momenten beinahe für ihren eigenen Reichtum schämte.
Chayton hingegen vergaß nicht ein einziges Mal, dort auszusteigen und ein paar Worte mit den Menschen zu sprechen und den Bedürftigen Münzen zu spenden.
Einige Male schnappte Rowena Gesprächsfetzen auf, in
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