Lustnebel
Boden.
War Chayton etwas zugestoßen? Besorgt schlüpfte Rowena in ihre Slipper, warf sich ihren Morgenmantel über und betrat Chaytons Schlafgemach ohne anzuklopfen. Er stand am Waschtisch und drehte sich um, als sie die Tür öffnete. Ein Stuhl lag auf dem Boden, daneben Chaytons hingeworfener Mantel. Ihr Blick traf Chaytons. Rowena prallte zurück.
Blut. Überall war Blut.
Seine Hände waren rot, als hätte er darin gebadet, und auf seinem weißen Hemd befanden sich rote Sprenkel wie von einem feinen Sprühregen. Die Hosenträger baumelten an seinen Beinen, und die Hosen waren bis zu den Knien schlammbespritzt. Sie sah nach seinen Schuhen und entdeckte sie sorgsam neben der Tür abgestellt.
„Schließ die Tür“, befahl er barsch.
Sie wich zurück und stieß sich den Rücken heftig am Türrahmen. Der Schmerz sauste durch ihren Körper und verebbte vibrierend. Doch sie nahm es kaum wahr, zu gefesselt und schockiert war sie von Chaytons Anblick. Sie bemerkte einen Blutspritzer an seinem Kinn.
„Herrgott, Weib! Halt keine Maulaffen feil“, herrschte er sie an.
Der Schreck jagte in eisigen Wellen durch ihren Körper. Sie bewegte sich auf ihn zu.
„Was ist passiert?“ Sie näherte sich ihm, doch er drehte sich ungeduldig zum Waschtisch und schrubbte seine Hände.
„Ein Kutschenunfall“, behauptete Chayton. Hochkonzentriert reinigte er seine Nägel. „Ich kam hinzu und versuchte zu helfen.“ Er schenkte Rowena keine weitere Beachtung, bis er sich das Hemd vom Leib riss. „Ist noch Glut im Kamin?“
Rowena wandte sich dem schwarzen Marmorkamin zu und stocherte mit dem Schürhaken in den Resten des Feuers. Sie nahm einige dünne Holzscheite und schichtete sie sorgfältig übereinander, froh, das Anschüren zu beherrschen. Schon kurz darauf züngelte eine kleine Flamme empor und leckte schnell über das Brennmaterial. Chayton trat neben sie und warf mit einem zufriedenen Knurren das zerknüllte Hemd in den Kamin. Es knisterte, dann ging der Stoff in Flammen auf und verbrannte.
„War es eine Frau oder ein Mann, der verunglückte?“, erkundigte sich Rowena. Sie kniete vor dem Feuer und sah zu Chayton hoch.
Er wirkte verwirrt. „Verunglückt?“
Rowena erhob sich, strich über den Rock ihres Nachthemdes, der unter dem Morgenmantel hervorlugte, und musterte ihren Gemahl misstrauisch. „Der Kutschenunfall, bei dem du dir die Kleider ruiniert hast?“
Chayton nickte. „Der Kutscher“, behauptete er.
Rowena brauchte nicht lange nachzudenken, sie war sich sicher, dass er log. Doch warum? Und wessen Blut hatte sein Hemd getränkt?
Stumm beobachtete sie ihn dabei, wie er aus seiner Hose schlüpfte und auch diese samt Unterhose ins Feuer warf.
„Ich hoffe, du gerätst nicht allzu oft in derartige Situationen. Auf Dauer wird uns deine Ritterlichkeit ein Vermögen kosten. Vor allem, wenn wir hinterher deine Kleidung vernichten müssen.“ Sie ignorierte seine Nacktheit und den Geruch seiner gewaschenen Haut, der ihre Nase umschmeichelte, betörender als jedes Parfüm. Sie schluckte und drehte sich um, wurde aber unversehens gepackt und an die Wand gedrückt.
Chaytons fester Körper presste sich an sie. Sein Gesicht war dem ihren so nah, dass sie die schwarzen Sprenkel in seinen bernsteinbraunen Augen erkennen konnte. Ihr Herz schlug wie das eines gejagten Rehs in ihrer Brust. Sie wimmerte überrascht und ängstlich zugleich.
„Hüte deine Zunge, Weib“, stieß Chayton hervor. Er fixierte sie, und als er ihr Unbehagen erkannte, lockerte er seinen Griff. „Du fürchtest dich vor mir“, sagte er ernüchtert.
Rowena befreite sich und tauchte unter seinem ausgestreckten Arm hindurch. Sie drehte sich um.
„Ich habe keine Angst vor dir“, erwiderte sie nachdrücklich. „Du kannst mir nicht gefährlich werden.“ Noch während sie die Worte aussprach, erkannte sie, dass sie soeben die größte Lüge ihres Lebens von sich gab.
Natürlich ängstigte sie sich. Sie wusste nichts von ihm und über seine Herkunft. Seine Motive blieben bislang im Dunkeln. Er kam und ging, wie es ihm beliebte, traf sich mit ominösen Personen, die er verstohlen in seinem Arbeitszimmer empfing, und war nun, als Krönung des Ganzen, dermaßen blutbesudelt nach Hause zurückgekehrt, dass sie vermuten könnte, er habe ein Massaker oder ähnliches veranstaltet.
Rowena wurde schlecht. Schwindel erfasste sie, während ihr Magen Saltos schlug. Froh, noch nicht gefrühstückt zu haben, schluckte sie und wich rückwärts zur Tür
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