Lustnebel
die Mimik eines Gesichts beurteilen konnte.
„Die Geister verlangen, dass ich dir eine Nachricht überbringe“, verkündete das Wesen.
Rowena fixierte die Gestalt, und die Furcht sickerte langsam in ihre Bauchhöhle und blubberte dort wie unangenehm große Champagnerblasen.
„Von wem? Welche Geister?“ Ihre Kehle wollte sich zuschnüren. Konnte es sein, dass Claire, ihre Claire, mit ihr Kontakt aufnehmen wollte?
„Sie warnen dich“, setzte die silbrig-schwarz verhüllte Gestalt unbeirrt fort. „Sei vorsichtig. Hüte dich vor denen, die gut scheinen. Nimm dich in Acht vor allzu großem Vertrauen. Die Menschen sind nicht immer das, was sie zu sein vorgeben.“
Das Wesen umkreiste sie erneut, und etwas an der Art, wie es das tat, ließ Rowena innehalten. Als die unheimliche Gestalt hinter ihr stand, fühlte Rowena einen heftigen Stoß im Rücken, der sie vornüberkippen ließ. Vollkommen überrumpelt stürzte sie mit dem Gesicht voran in den Sand. Die feinen Körnchen schmiegten sich an ihre Haut, weich und rau und kalt und warm gleichzeitig. Der Sand drang in jede erreichbare Körperöffnung, Nase, Augen, Ohren. Sie prustete die Sandkörner beiseite. Während sie sich aufrichtete, spürte sie, wie eine kleinere Menge in ihr Dekolleté herabrieselte. Der Sand schmirgelte sacht ihre Haut, als sie sich bewegte. Zwischen ihren Brüsten blieben einige Körnchen kleben, und sie schüttelte sich in der Hoffnung, die unliebsamen Eindringlinge loszuwerden.
Sie wischte mit den Händen über ihr Gesicht. Die Sandkörner, die so weich durch ihre Finger rieselten, wirkten auf ihren Wangen kantig und grob. Ein Maunzen erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie nahm die Hände herunter und blinzelte einige Male, bis sich ihre Augen an die plötzliche Dunkelheit ihrer Umgebung gewöhnt hatten.
Sie saß wieder im Tipi. Allerdings befand sie sich allein dort. Das Feuer war erkaltet, und auch der Geruch von Salbei erwies sich nur als Hauch. Sie schluckte und betrachtete die schwarz-weiß gemusterte Katze mit den violetten Augen.
„Du schon wieder“, sagte sie ohne große Verwunderung.
Die Mieze legte ihren Kopf schief und starrte Rowena durchdringend an. Etwas an dieser Begutachtung ließ sie glauben, die Katze erforschte sie bis auf den Grund ihrer Seele. Als sähe und höre sie Rowenas Träume, Hoffnungen und Ängste. Als erkenne sie ihr Innerstes. Das Tier reckte das Kinn und wirkte stolz und gebieterisch. Voller Selbstvertrauen. Eine Gebieterin über Nacht und Sinne. Ihre Barthaare zitterten.
Rowena musterte das feine, glänzende Fell, die weißen Schnurrhaare und sah in die violetten Augen der Katze. Der Stubentiger bedachte Rowena mit Herablassung.
„Tu nicht so, du frisst Mäuse, kein Grund, auf mich herabzusehen!“, sagte Rowena.
Sie streckte ihre Hand aus, um das Tier zu streicheln. Blitzschnell fuhr die Katze herum, versenkte ihre Krallen in Rowenas Hand und schnappte zu. Ihre Fangzähne bohrten sich in Rowenas Handrücken. Sie schrie mehr vor Überraschung als vor Schmerz auf und sah der Katze nach, die auf die andere Seite des Zeltes flüchtete und Rowena mit der Hochmütigkeit einer Herrscherin fixierte.
Rowena hielt sich die schmerzende Hand. Die Kratzspuren waren kaum der Rede wert. Nur dort, wo sich Klauen und Zähne in ihr Fleisch gebohrt hatten, quollen winzige Blutperlen hervor. Rowena presste ihre Lippen auf die Wunden und leckte das Blut ab. „Du hast mir einen reizenden Talisman verpasst“, ärgerte sie sich.
Die Katze bewegte ihren Schwanz fast wie ein Hund, ehe sie kehrtmachte und aus dem Zelt lief.
„Rowena?“
Sie schreckte auf, erkannte Chayton über sich und wandte ihren Blick auf die Steine, die trocken und heiß in der Mitte des Tipis ruhten. Der Salbeigeruch war intensiv und unverkennbar und mischte sich mit einem entfernt vertrauten, honigähnlichen Duft. Rowena blickte verwirrt auf ihre Hand, doch sie wirkte unverletzt. Nur minimale dunkle Pünktchen, dort, wo die Katze sie in der Vision verletzt hatte. Rowena schluckte verunsichert und konzentrierte sich auf Chayton. Er nahm ihre Hände und zog sie hoch.
„Komm, genug, das Abschiedslied für die Spirits wurde gesungen.“
Rowena folgte ihm, alles war wie immer, und doch empfand sie sich anders. Im Gleichgewicht mit sich und der Umwelt und erfüllt von Sinnlichkeit.
Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich unterschiedlich an. Erst wie gepolstert, mit kurzen, sorgfältig gestutzten Halmen, dann scharfkantig und hart im Wechsel
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