Lustnebel
Einer Welt tief unter der Oberfläche, im Schoß von Mutter Erde. Das Inipi diente zur Innenschau, einer Suche nach Visionen und Erkenntnissen, hatte Chayton ihr erzählt, ehe sie das Zelt betraten. Während des Rituals durfte nicht gesprochen werden, ermahnte er sie, ehe sie ins Zeltinnere traten. Rowena war fest entschlossen, Chayton alle Ehre zu machen.
Sie sah zu ihm und gab sich Mühe, nicht zu erröten, doch es war fast unmöglich. Vor allem, als ihr Blick über seine schweißglänzende Brust glitt. Die Feuchtigkeit intensivierte seine Tätowierungen, gleichzeitig aber verschwammen die Umrisse seines Körpers mit der Zeltwand. Sie wandte sich blinzelnd ab und sah zu den Steinen, aus denen Dampf emporstieg. Als sie Chaytons Bewegung wahrnahm, konzentrierte sie sich auf ihn. Mit feierlicher Miene setzte er eine Pfeife zusammen, eine ähnliche hatte sie in seinem Arbeitszimmer gesehen. Er murmelte etwas, leise und in dieser indianischen Sprache, in der sie ihn manchmal sprechen hörte.
Er stopfte die Pfeife, umständlich, wie es Rowena schien, und hochkonzentriert. Er entzündete den Tabak und sog an der Spitze. Der andächtige Gesichtsausdruck, den er zur Schau trug, verriet ihr, dass das Rauchen Teil der Zeremonie war. Er reichte Rowena die Zeremonialpfeife und sah sie herausfordernd und neugierig zugleich an.
Sie griff vorsichtig nach der Pfeife und sog daran, wie sie es bei Chayton beobachtet hatte. Bitterer Rauch füllte ihren Mund. Der Tabakdunst kratzte in ihrer Kehle. Ihr Gaumenzäpfchen kitzelte, und Rowena konnte sich nicht länger zurückhalten und hustete gequält. Rauch stob aus ihren Nasenlöchern. Erschrocken hielt sie sich die Hand vor die Nase, und Chayton lachte. Er nahm ihr die Zeremonialpfeife ab und inhalierte einen tiefen Zug. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Rowena tat es ihm gleich.
Sie konzentrierte sich, tastete mit ihren Sinnen nach allem, was um sie herum wahrzunehmen war. Heiße Luft streifte ihr Gesicht. Sie atmete ein, und der würzige Geruch des getrockneten Salbeis mischte sich mit dem des verbrennenden Salbeis. Sie öffnete die Augen, und prompt wehte ihr eine Rauchfahne ins Auge. Sie blinzelte die Tränen fort. Sie hörte das leise Zischen der Wassertropfen auf den heißen Steinen, die Chayton in der Mitte des Zeltes aufgebaut hatte. Er bewegte sich im selben Moment, schob die Füße über den Boden, das scharrende Geräusch verriet ihn. Draußen strich der Wind um das Tipi. Sein heiseres Raunen schien wie das Greinen aus einer anderen Welt.
Die Sinneswahrnehmungen, vor allem der Duft und die zunehmende Hitze, lullten Rowena in einen traumähnlichen Zustand. Sie fühlte sich leicht und verwirrt, als hätte sie zu lang in einem Karussell gesessen. Ihre Augenlider schienen schwer, versunken in sich selbst verlor alles Übrige um sie an Bedeutung. Ein Windstoß riss die Plane beiseite, die den Eingang verdeckte. Herbstlaub tanzte getragen von der Böe in der Luft.
Ein maskiertes Gesicht tauchte unvermutet vor ihrem auf. Rowena fuhr entsetzt zurück. Der Schneidersitz und der Rock erwiesen sich als fast perfektes Hemmnis. Sie kippte nach hinten und fand sich auf ungewohntem Untergrund liegend wieder. Sie lag warm und weich. Der Boden bestand aus winzigsten, harten Körnchen, die in der Gesamtheit eine Liegestatt boten so weich wie Daunenfedern. Rowena schluckte. Sie leckte sich über die Lippen und richtete sich auf. Sie befand sich nicht länger in dem Ritualzelt, sondern lag auf weiß-goldenem Sand. Rowena stand auf und sah sich um. Hohe Sandhügel umringten Rowena. Ihre Füße versanken fast in dem feinen, goldgelben Sand. Ratlos sah sie sich um. Wie kam sie hierher?
Die maskierte Person erschien wie aus dem Nichts vor ihr. Rowena schrie auf, und ihr Herz raste so sehr, dass sie den Pulsschlag durch ihre Adern donnern fühlte.
„Hast du Angst?“ Kopf und Gesicht bedeckte eine silbrige Haube. Durch die Augenschlitze starrte Schwärze. Angst schlängelte sich Rowenas Wirbelsäule empor, in ihrer Welt waren Visionen die ersten Anzeichen für Wahnsinn. Hatte sie nicht erst einen kompletten Gedächtnisausfall gehabt?
„Nein“, widersprach der Maskierte. Oder war es eine Frau? Die Falten des Umhangs erinnerten fatal an die Kutten der Hellfire-Nonnen und verbargen die Körperformen. Die Stimme war ein heiseres Flüstern. „Du bist weder verrückt noch halluzinierst du.“ Die Gestalt umrundete Rowena und musterte sie interessiert, sofern man das ohne Blick in
Weitere Kostenlose Bücher