Lustvolles Erwachen
mit dem lahmen Bein auf die Welt gekommen war. Hatte Georgianna diesem Kind je Liebe entgegengebracht? Oder hatte sie dem kleinen Mädchen im Laufe der Jahre jedes Fünkchen Selbstwertgefühl geraubt? War das der Grund, warum Grace mit der Frau, die sie verlassen hatte, Mitgefühl hatte und warum sie Verständnis für sie zeigte? War nicht einmal mehr genug Selbstachtung übrig geblieben, um wütend auf diese Frau zu sein?
Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, stand er auf und nahm ihre kalte Hand in seine. »Nicht jeder ist so heldenhaft wie Sie, Mrs. Hilliard«, sagte er und hoffte, dass es die richtigen Worte waren.
Ihr Lächeln wurde echt. »Oh, ich bin sehr zäh, Mr. Hilliard. Geradezu unzerstörbar. Ich entschuldige mich dafür, dass ich dich gegenüber deiner Mutter in eine so unangenehme Situation gebracht habe. Ich schwöre, dass ich keine weiteren Geheimnisse mehr habe. Du kennst schon meinen vollen Namen. Grace Georgianna. Ein bisschen Wunschdenken seitens meiner Mutter, glaube ich.«
»Das war viel klüger, als sie gedacht hätte«, versicherte er und hauchte einen Kuss auf ihre von der Arbeit raue Hand.
Und seltsamerweise meinte er es ernst.
»Du bist nett«, sagte Grace. Ihre Röte vertiefte sich zu einem unschönen Ziegelrot.
»Nein«, entgegnete er und erwiderte ihr Lächeln, »das bin ich nicht.«
Er wusste, dass er sie wieder in Verlegenheit brachte. Sicherlich war er nicht der Erste, der Grace je solche Komplimente gemacht hatte. Trotzdem sah sie bei seinen armseligen Worten so aufgeregt aus wie ein junges Mädchen. Das machte ihn wieder wütend.
Grace entzog ihm sanft die Hände und zeigte ihm damit, dass ihr kleines Tête-à-Tête vorbei war. »Also, meinst du nicht, dass wir jetzt in den Tag starten sollten? Ich glaube, du hast erwähnt, dass du eine Verabredung hast.«
Er nickte, noch immer durcheinander. »Sobald ich sicher bin, dass du den Zusammenstoß mit meiner Mutter gut überstanden hast.«
Grace warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. »Ich fürchte, es ist nicht besonders christlich, darauf zu hoffen, dass ihre Möpse sie fressen?«
Überrascht lachte er laut auf. »Ich glaube, wir verstehen uns besser, als wir gedacht hätten, meine Liebe.« Noch immer lachend, drehte er sich um, um die Tür zu öffnen. »Leider kann ich nicht einmal einem Mops eine derartige Magenverstimmung wünschen.«
»Darf ich noch eine Frage stellen?«
Er hielt inne, die Hand auf dem Türknauf. »Selbstverständlich.«
Sie legte den Kopf schräg und wirkte so seltsamerweise kleiner. »Was hast du getan, dass dir eine solche Bitterkeit entgegenschlägt?«
Er lächelte und wusste, wie grimmig dieses Lächeln wirkte. »Ich habe überlebt. So, ich habe wirklich viel zu tun heute. Aber vielleicht möchtest du mit mir zu Abend essen. Dann können wir mit dem Kennenlernen beginnen.«
Grace errötete wie ein Mädchen, das zum Tanz aufgefordert worden war. »Das wäre schön.«
Nie hätte er gedacht, ein Feigling zu sein. Als er jedoch das Erröten sah, glaubte er es. Das Erröten weckte in ihm den Wunsch, sie in die Arme zu schließen und festzuhalten, um ihr zu zeigen, dass sie Besseres verdient hatte als die Zurückweisung durch ihre Mutter. Aber das wäre ein Zeichen für eine neue, engere Beziehung gewesen, und das würde Grace in Gefahr bringen. Zumindest war das seine Rechtfertigung vor sich selbst.
Schließlich zog er sich so schnell zurück, wie er sich angenähert hatte. »Gut. Dann sehen wir uns später, ja?«
Und noch bevor sie geantwortet hatte, war er bereits verschwunden.
An diesem Abend bereitete Grace sich besonders sorgfältig auf das Essen vor. Natürlich trug sie noch immer Grau – eines ihrer unvermeidlichen grauen Abendkleider, die sie allmählich selbst zu hassen begann. Das Kleid war nicht hässlich. Es war nur nichtssagend. Früher war genau das ihr Ziel gewesen. Doch eine Frau auf einem Militärstützpunkt in Portugal hatte ganz andere Ansprüche an ihre Garderobe als eine Frau, die den Speisesaal des Pulteney Hotel in London betrat.
Diccan begrüßte sie mit seltsamer Förmlichkeit, ehe er ihr persönlich den Stuhl heranrückte und dann das Essen bestellte.
»Also«, sagte er, als er einen Löffel von seiner klaren Rinderbrühe nahm, »wo sollen wir anfangen?«
Sein Lächeln wirkte gezwungen. Grace konnte ihm das nicht verübeln. Nach ihrem Bekenntnis am Morgen war sie sich sicher, dass er sich innerlich auf weitere Überraschungen eingestellt hatte – wie
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