Lustvolles Erwachen
können. »Ist sie so schlimm wie dein Vater?«
Diccan lachte scharf auf. »O nein, sie ist viel schlimmer.«
Graces Stimmung sank schlagartig. Sie sah an ihrem schlichten grauen Kleid hinab. Sie wusste, dass ihre Frisur langweilig wirkte – ein Knoten, der nur den Zweck hatte, ihr das Haar aus dem Gesicht zu halten. Und ihr Bein war nach der Nacht im Sessel noch immer steif. Das war nicht gerade die Verfassung, in der sie ihrer Schwiegermutter gern zum ersten Mal gegenübertreten wollte.
»Ich fürchte, es würde ihr nicht reichen, nur dich zu treffen, oder?«, schlug sie mit einem schwachen Lächeln vor.
Statt einer Antwort streckte er ihr die Hand entgegen. »Komm, mein Mädchen, sie ist nur eine alte Frau. Ich würde jederzeit auf Boudicca wetten.«
Als sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sah, bezweifelte Grace, dass sie ihm glauben konnte. Allerdings war ihr klar, dass sie keine Wahl hatte. Also legte sie die Hand auf seinen Arm und ließ sich von ihm durch die Halle in einen der privaten Salons führen.
Lady Eloise stand am Kamin, wo die Morgensonne ihr Alter nicht verraten würde. Weder groß noch klein, nicht besonders hübsch, nicht richtig blond. Aber majestätisch. Jeder Regimentssergeant wäre bei ihrer Haltung vor Freude in Tränen ausgebrochen. Debütantinnen hätten unter dem Blick aus diesen kalten grauen Augen mit den hervortretenden Augäpfeln vor Angst gezittert. Und der Teufel selbst hätte sie um die Selbstzufriedenheit in dem schmallippigen Lächeln beneidet. Bekleidet mit einem täuschend schlicht wirkenden cremefarbenen Tageskleid aus indienne, einem bedruckten Baumwollstoff, mit dazu passender grüner Jacke und Haube, war sie der Inbegriff von Eleganz.
Es war offensichtlich, dass Diccan das Aussehen eher von seiner Mutter geerbt hatte, obwohl das kantige Kinn und die breite Stirn deutlich besser zu seiner männlichen Erscheinung und dem dunkleren Typ passten. Der Ausdruck auf Lady Eloises Gesicht überzeugte Grace davon, dass sie ihm auch sein beleidigendes Gehabe beigebracht hatte. Dieser Eindruck wurde bestätigt, als Lady Eloise Grace erblickte. Ihre geisterhaft grauen Augen wirkten wach und klug. Ein Ausdruck von Überlegenheit stand in ihrem Blick. Und ein wohlplatziertes verächtliches Lächeln.
»Ich verstehe«, sagte die Lady und hob ihr Monokel mit derselben gnadenlosen Bestimmtheit wie Diccan. »Dein Vater hat nicht übertrieben.«
Sie bot keinem der beiden einen Platz an. Grace hatte den Eindruck, dass es ihre Art war, um ihre Überlegenheit deutlich zu machen. Bei verängstigten Debütantinnen funktionierte das sicherlich sehr gut. Es war Pech für Lady Eloise war, dass Grace schon Generäle überlebt hatte, von denen die alte Frau sich eine Scheibe hätte abschneiden können. Und nicht nur das: Grace überragte Lady Eloise und machte es der alten Dame schwer, auf sie herunterzublicken.
Diccan machte eine formvollendete Verbeugung vor seiner Mutter. »Der Lord Bishop hat ohne Zweifel erzählt, was für ein glücklicher Mann ich bin. Mutter, darf ich dir deine neue Tochter vorstellen: Grace Fairchild Hilliard. Grace, das hier ist meine Mutter, Lady Eloise Hilliard. Wie reizend, dass du es nicht erwarten konntest, uns zu sehen. Ich nehme an, dass Winnie und Charlie dich aus dem Grund nicht begleiten. Meine Schwestern«, wandte er sich an Grace, die den Blick nicht von seiner Mutter abwenden konnte.
Lady Eloises Reaktion war so, wie man es typischerweise auch von Diccan kannte: ein wohlüberlegtes Seufzen, das Bände sprach – allerdings ohne den Funken Humor, der Diccans Angriffe abmilderte. »Winifred und Charlotte«, antwortete sie in leidendem Tonfall, »sind in der Schule, wie du weißt.«
»Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mylady«, sagte Grace und machte einen akkuraten Knicks.
Diccans Mutter beachtete sie nicht einmal. »Wenn das deine Vorstellung von Rebellion sein soll, Diccan«, sagte sie in einem nüchternen, fast gelangweilten Ton, der Grace gerade durch seine Milde einen Schauer über den Rücken jagte, »bin ich nicht erfreut darüber.«
Grace wollte Diccans Arm loslassen und sich setzen – ob sie nun die Erlaubnis dazu hatte oder nicht. Doch unter ihrer Hand spürte sie, wie seine Muskeln sich anspannten, und beschloss, ihn nicht dieser … Kreatur zu überlassen.
»Ich bin enttäuscht«, fuhr seine Mutter fort und ließ das Monokel sinken, als wäre es mit einem Mal zu schwer geworden. »Du warst für Besseres bestimmt.«
Diccans
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