Lustvolles Erwachen
ich nicht über mein Leben in Indien sprechen darf«, fragte sie, »worüber darf ich denn dann reden? Als deine Frau.«
Seine Stimme klang milde, fast wie bei einem Lehrer, der mit einem begriffsstutzigen Schüler sprach. »Über alles, was eine anständige britische Frau nicht schockiert.«
Und eine Frau, die ihre Zeit in den Zenanas Indiens genossen hatte, war keine anständige britische Frau. Ebenso wenig wie eine Frau, die griechische Bücher im Original las oder Banditen erschoss oder Schneeschuhe anfertigte. Grace’ Interesse an der Unterhaltung war mit einem Mal verflogen. Während er die Schwierigkeiten eines Briten darlegte, der im Ausland lebte, widmete Diccan sich seinem boeuf tremblant. Grace war sich nicht sicher, ob er überhaupt bemerkt hatte, dass sie nicht weiteraß.
War Diccan tatsächlich so engstirnig, wie seine schwarz-weiße Uniform glauben machte? Grace dachte an die Schätze, die sie auf Longbridge aufbewahrte. Die Schätze, die nun wahrscheinlich niemals das Tageslicht sehen würden.
Als Diccan sich auf den Weg zum Botschaftsball machte, war sie beinahe erleichtert, dass er ging.
Eine Stunde später dachte Diccan noch immer über das Abendessen nach. Er war auf dem Ball der belgischen Botschaft und tat das, was man von ihm erwartete. Mit einem Glas Champagner in der Hand stand er, an die Balkontür gelehnt, da und beobachtete die Gäste, die im Walzerschritt an ihm vorbeitanzten. Unentwegt musste er an die Frau denken, die er im Hotel zurückgelassen hatte. Er versuchte, sich vorzustellen, wie die unsichtbarste Frau der ganzen feinen Gesellschaft in diese exklusive Runde passte.
Er konnte es nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Grace sich irgendwann einmal in dieser Atmosphäre wohlfühlen würde. Alles war zu grell, zu verderbt, zu vornehm. Und sie war die gehbehinderte Tochter eines Soldaten.
Die Tochter eines Soldaten, die einen bösen Sinn für Humor und bessere Geschichten auf Lager hatte, als er von seinen Reisen erzählen konnte. Er lächelte still in sich hinein. Er wünschte sich, er hätte auch den Rest der Geschichte aus den Zenanas hören können. Sie hatte so glücklich ausgesehen, als sie in Erinnerungen geschwelgt hatte. Er fragte sich, welche anderen Lektionen sie noch gelernt hatte.
Glücklicherweise hatte er es nicht herausgefunden. Was wäre passiert, wenn dieser alte Drachen am Nebentisch nicht aufgekeucht hätte? Er war sich sicher, dass Beobachter gesehen hätten, wie er sich näher zu Grace gebeugt hätte, als hätte er ihre Worte so leichter hören können. Sie hätten bestimmt auch gesehen, wie sie einander angelächelt, wie sie einander vielleicht sogar berührt hätten. Sie hätte es beinahe getan, als er ihr von Robert erzählt hatte. Sie hätten wie ein Paar ausgesehen, das eine engere Beziehung aufbauen wollte.
Bei dem Gedanken rieselte ihm ein Schauer über den Rücken. Wenn Bertie recht gehabt hatte, dann war die Katastrophe vorhersehbar. Diccan hatte im Restaurant einige Leute wiedererkannt. Er hätte nicht beschwören können, dass sie zu den Löwen gehörten, aber als er aufgeblickt hatte, hatte er das seltsame Prickeln im Nacken verspürt, das ihn bei Gefahr warnte. Irgendjemand in dem Saal war viel zu interessiert an den Geschehnissen an Diccans Tisch gewesen.
»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du geheiratet hast«, säuselte neben ihm eine sinnliche Stimme.
Diccan wandte den Kopf und sah Lady Glenfallon, die neben ihm aufgetaucht war. Sie nippte an einem Glas Champagner. Bette und er waren in Wien einmal Geliebte gewesen. Er hatte es nicht bereut, dass sie sich getrennt hatten. Sie war die Art von Hyäne, vor der er Grace würde beschützen müssen.
»Das habe ich. General Sir Hillary Fairchilds Tochter. Möchtest du mir gratulieren?«
Ihr aufgemalten schwarzen Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ich denke, ich werde mich beglückwünschen«, erwiderte sie mit einem verschlagenen Lächeln. »Bei einer solchen Gattin wird es nicht lange dauern, bis du nach … Ablenkung suchst.«
Er wollte der Ziege sagen, dass er niemals eine ehrenwerte Frau betrügen würde. Er wusste, dass er das nicht konnte. Er hob sein Glas zu einem Toast. »Ich bewundere ihren Fleiß und ihr Mitgefühl.«
Bettes Lachen perlte wie der Champagner in ihrem Glas. »Oh, eine achtbare Dame, oder? Ich kann nur hoffen, dass ich dieses Musterbeispiel einer Frau einmal kennenlernen darf. Wird sie dich auch mit in die Kirche schleppen? Was meinst du? Um mittellose
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