Luther. Die Drohung
Luther, zweiundzwanzig,
der davonschlendert, ohne sie zu küssen. Und die Leichtigkeit ihres Herzens in
jener Nacht – wie sie nicht schlafen konnte und sich selbst nicht
wiedererkannte: die ernsthafte, vernünftige, fleißige Zoe, die in ihrem ganzen
Leben mit zwei Männern geschlafen hatte, einem festen Freund in der Schule, als
eine Art Abschiedsgeschenk, und einem etwas älteren Mann, den sie während ihres
Auslandsjahrs kennengelernt hatte.
Es passte nicht zu ihr, im Bett zu liegen und sich zu fragen, was
ein Junge wohl genau jetzt machte, in genau dieser Sekunde. Aber sie
verbrachte die ganze Nacht damit.
Und sie verbrachte die nächsten paar Tage damit, so zu tun, als
versuchte sie nicht, es so einzufädeln, dass sie ihn zufällig auf dem Flur
traf, im Anglistischen Institut, in der Mensa.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mark, der noch immer ausgestreckt auf
der Parkbank saß und die Tauben beobachtete.
»Ja«, sagte Zoe. »Sorry. Ich war gerade meilenweit weg.«
Er streckte seine Arme. »Wir sollten besser zurückgehen.«
»Ich will nicht zur Arbeit«, stöhnte sie und reckte ihren Nacken.
»Ich will mir heute freinehmen. Ich bin müde.«
»Wir könnten blaumachen«, sagte Mark. »Ins Kino gehen oder so. Ich
war schon ewig nicht mehr im Kino. Schon gar nicht nachmittags.«
»Ich auch nicht.«
»Wir sollten das wirklich machen«, schlug er vor. »Wir sagen, wir
sind in einem Meeting. Gehen ins Kino. Holen uns nachher was beim Chinesen.«
»Das würde ich gerne«, sagte sie. »Aber nein.«
Also steckte er seine Tabakdose ein und sie spazierten zurück zur
Arbeit.
In ihrer Erinnerung gingen sie Arm in Arm, obwohl das natürlich
nicht stimmen kann. Noch nicht. Nicht zu dem Zeitpunkt.
An jenem Nachmittag war sie zerstreut und ungeschickt
gewesen. Sie kippte eine Kaffeetasse auf ihrem Schreibtisch um.
Einfach weil sie dort gesessen und über die Vergangenheit gelacht
hatte, hatte sie gespürt, dass John, jener Junge, nur noch eine Erinnerung für
sie war.
Manchmal erwischte er sie, nachdem sie ein Weinglas zu viel gehabt
hatte. Dann war sie rührselig, sah sich die alten Fotos von ihnen wieder an.
»Schau dir meine Haare an«, sagte sie dann. Oder: »Himmel, schau dir
diese Stiefel an. Wie konnte ich nur?«
Oder sie fragte: »Gott, erinnerst du dich an diese Wohnung? Die in
der Victoria Road?«
Und dann tat ihr Luther den Gefallen und blätterte die Alben durch,
ohne zu bemerken, dass der Mann, der die Bilder ansah, nicht der Junge war, den
sie zeigten.
Irgendwann im Lauf der Zeit hatte jener Junge sich zu den Toten
gesellt, und Zoe hatte Jahre damit verbracht, ihm von einem fernen Ufer aus
zuzuwinken und zu versuchen, ihn zurückzurufen.
Und jetzt ist es noch nicht einmal Mittag, an diesem
merkwürdigen Tag ein Jahr später, und sie liegt nackt auf einem Hotelbett mit
Mark North, im warmen Nachglühen eines Orgasmus.
Sie schmiegt sich an seinen Hals, küsst ihn. Er dreht sich um, küsst
sie.
Sie weiß, dass sie sich schuldig fühlen wird. Sie wird aufstehen und
nackt in die Dusche gehen und herauskommen und sich abtrocknen, und Mark wird
zusehen; natürlich wird er das – er wird ihr bei diesen alltäglichen Dingen
zusehen, denn hier und jetzt ist alles, was sie tut, faszinierend,
atemberaubend, bezaubernd. Genau wie alles, was er tut, faszinierend und
bezaubernd für sie ist.
Sie wird sich vor diesem Mann abtrocknen, der gerade in ihr gekommen
ist, zweimal. Und sie wird sich anziehen: Unterwäsche und Strumpfhose und
Hemdbluse und Hosenanzug und Schuhe, und sie wird mit ihrem Haar herumspielen
und ihr Make-up neu auftragen. Sie wird einen Arzttermin machen, um sich die
Pille danach zu holen, denn keiner von ihnen hatte das hier geplant und keiner
hatte daran gedacht, bei einer Apotheke vorbeizugehen, um Kondome zu kaufen.
Von der Pille danach wird sie vielleicht Kopfschmerzen und spannende
Brüste bekommen, und vielleicht wird ihr davon schlecht werden; sie wird sich
eine gute Ausrede ausdenken und sie immer wieder einstudieren müssen, bis sie
sie nicht mehr für erfunden hält. Das ist die einzige Möglichkeit, den Mann,
den sie geheiratet hat, erfolgreich anzulügen.
Sie wird Mark einen Abschiedskuss geben, und weil sie nun weiß, dass
ihre Körper zusammenpassen, wird es keine Verlegenheit zwischen ihnen geben.
Sie mag seinen Geruch, den Hauch von frischem Tabak in seinem Schweiß, die paar
grauen Haare auf seiner Brust, die Narbe auf seinem Oberarm.
Sie kann das alles spüren wie
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