Luther. Die Drohung
herrscht eine
angenehme Atmosphäre, wie in einem Boutique-Hotel, es ist in Erdtönen und
künstlich gealtertem Holz gehalten. Paula verdient ganz gut, aber es geht ihr
nicht darum, das zu zeigen: Es geht ihr darum, anzudeuten, dass sie das hier
nicht tun muss – dass sie im Wesentlichen eine Altruistin ist, eine Therapeutin, die einen
Dienst anbietet.
Sie fordert den Jungen auf, sich zu setzen.
Er lässt sich auf eine Stuhlkante nieder. Wischt sich die
Handflächen an den Schenkeln ab. Er zappelt mit einem Bein. Er schlingt die
Hände zu schwitzigen Knoten ineinander. Er sieht zu ihr, er sieht weg.
Sie schlägt die Beine übereinander, zeigt ein wenig Oberschenkel und
beugt sich nach vorne. Und da ist das Dekolleté. Wumm. »Möchtest du einen Tee?«
Er schüttelt einmal den Kopf, schaut weg.
»Ich habe verschiedene Kräutertees«, sagt sie mit ihrer rauchigen
Stimme. Sie spricht nun schon so lange mit dieser Stimme, dass sie kaum noch
darüber nachdenkt. Sie hatte Unterricht bei einem Schauspiellehrer. Er war kein
Hetero-Junge, also bezahlte sie ihn in bar. »Pfefferminz wirkt sehr
entspannend«, sagt sie zu dem Jungen. »Und Kamille.«
Er schüttelt den Kopf, sieht aus, als wollte er weinen.
Paula sitzt da und wartet. Manchmal ist das das Beste.
Den Blick auf den Boden gerichtet, sagt der Junge: »Es ist wegen
meinem Dad.«
»Ach, Liebling«, sagt sie, »was ist mit ihm?«
»Er hat mich hergeschickt. Er will, dass Sie mit zu uns kommen.«
»Hat er eine Behinderung?«, fragt Paula. »Denn das ist kein Problem.
Das Gebäude hat einen Rollstuhlzugang.«
»Das ist es nicht.«
Sie macht ein besorgtes Gesicht, und ihre wahren Emotionen folgen.
Auch das hat ihr ein Schauspiellehrer beigebracht, und das Komische ist, sie
fühlt sich deswegen nicht wie eine Schwindlerin. Sie fühlt sich wie ein
besserer Mensch. »Ist er bettlägerig?«
»Nein.«
Sie wartet darauf, dass noch mehr kommt, beginnt daran zu zweifeln.
Während sie gegen den Drang ankämpft, auf die Uhr zu sehen, fragt sie: »Was ist
es dann, Schätzchen?«
Er wippt mit dem Fuß, zupft an einem der spärlichen blonden Haare
auf seinem dürren Unterarm.
»Wir haben ein Baby, das gefüttert werden muss.«
Stille. Paula hört Autos vorbeifahren wie das Geräusch des Blutes in
ihren Ohren.
Als sie als Mädchen auf der Straße arbeitete, war das erste
Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte, die Tatsache, dass das Gehör
plötzlich sehr scharf wurde. Der Körper machte sich bereit zu reagieren, bevor
das Gehirn merkte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Als sie nun den Straßenverkehr hört, weiß sie, dass sie ihrem ersten
Instinkt hätte folgen und den jungen Mann nicht hereinbitten sollen. Aber er
hatte am Telefon sanft und sympathisch geklungen, und sie hatte kein Problem
darin gesehen, eine oder zwei Stunden früher anzufangen, sie konnte danach
immer noch ein Nickerchen halten.
Nichts davon äußert sich in ihrer Stimme oder ihrer Körpersprache.
Sie sagt nur: »Ich verstehe nicht ganz.«
»Wir haben ein Baby«, wiederholt er. »Es muss gefüttert werden.«
»Ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen?«
Der junge Mann zögert, als würde er darüber nachdenken. »Kleines
Mädchen. Emma.«
»Kann ihre Mum sie nicht stillen?«
»Ihre Mum ist tot.«
»Ach, das tut mir so leid, Liebling.«
»Schon okay. Sie war nicht meine Mum oder so.«
Der Junge kneift die Augen zusammen, als würde er sich innerlich für
etwas zurechtweisen. Er wird rot.
»Wie alt ist sie? Die kleine Emma?«, fragt Paula.
»Sehr jung. Ein Baby halt.«
»Was sagen die Ärzte?«
»Mein Dad traut Ärzten nicht. Er sagt, ein Baby braucht richtige
Milch. Von einer Frau.«
»Nun, viele Leute würden ihm darin recht geben«, sagt sie. »Meine
ganz speziellen Freunde finden, dass das auch im späteren Leben zutrifft. Die
Milch einer Frau hat etwas Besonderes.«
Der Junge nickt.
»Aber Muttermilchersatz schadet einem Baby nicht«, sagt sie.
»Sie will kein Fläschchen. Sie spuckt es einfach aus.«
Paula lächelt liebevoll. »So was kommt vor. Man muss nur Geduld
haben.«
»Dad glaubt, dass sie krank ist.«
»Dann sollte er zum Arzt gehen. Ich finde es rührend, dass du zu mir
gekommen bist: Es zeigt, dass dein Dad deine Schwester sehr lieb hat. Das
berührt mich. Ein Kind zu stillen stellt eine innige Verbindung her. Und es ist
wundervoll zu denken, dass wir das miteinander teilen könnten. Aber es ist
nicht das Richtige. Das Richtige wäre, zum Arzt zu
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