Luther. Die Drohung
ab.
Er streift seine Jacke ab, faltet sie und legt sie aufs Sofa. Er
öffnet den Reißverschluss des Rucksacks und holt ein Paar Maler-Überschuhe
heraus. Er zieht sie sich über.
Dann schlüpft er in einen papiernen Schutzanzug. Er setzt sich die
Kapuze mit Gummizug auf. Er steht da in dem weißen Overall und den dünnen
Gummihandschuhen.
Er greift in den Rucksack und holt sein Werkzeug heraus: eine
Elektroschockpistole, eine Rolle silbernes Klebeband (mit einer umgeknickten
Ecke, um es leichter zu handhaben), ein Skalpell, ein Teppichmesser.
Ganz unten im Rucksack, zu einer Wurst zusammengerollt, liegt eine
kleine Fleecedecke mit Satinettesaum.
Er legt die Decke aufs Sofa. Schaut auf sie hinunter, ein bleiches
Rechteck.
Der Geist des Mörders steigt auf und scheint seinen Körper zu
verlassen. Er schwebt über sich selbst.
Er sieht sich selbst dabei zu, wie er die Treppe hinaufgeht: sachte
jetzt, sachte.
Er vermeidet die fünfte Stufe, schlüpft zurück in seinen Körper und
dringt weiter in die Dunkelheit vor.
Luther blättert im Wartebereich ein zerfleddertes, altes Heat -Magazin
durch, um die Zeit totzuschlagen.
In der anderen Ecke brüllt ein Penner mit aschgrauen Dreadlocks Gott
an, oder vielleicht auch, dass er Gott ist. Es ist schwer zu sagen.
Reed humpelt gegen 3.15 Uhr heraus. Luther nimmt seinen Mantel und
hilft ihm durch die Türen, durch den grell erleuchteten Haupteingang.
Sie gehen quer über den nassen Parkplatz zu Luthers schäbigem, altem
Volvo.
Luther fährt Reed nach Hause, zu einer gemieteten
Zweizimmerdachwohnung in Kentish Town.
Das Apartment ist kahl und unordentlich, als wäre es eine
Übergangslösung – was es auch ist. Reeds Wohnungen sind immer
Übergangslösungen.
Reed sehnt sich nach einem großen Haus, einem großen Garten mit
einem Trampolin, einer Horde Kinder, die darauf herumspringen – seinen eigenen
Kindern, ihren Freunden, ihren Cousins, ihren Nachbarn.
Reed träumt von Gemeinschaft, von sonntäglichen Mittagessen in Pubs,
von Straßenfesten, von gut besuchten Grillpartys, bei denen er in
Comic-Schürzen Würstchen brät. Er träumt davon, von seinen Kindern vergöttert
zu werden und sie ebenfalls zu vergöttern.
Mit nun achtunddreißig Jahren war er viermal verheiratet und ist
kinderlos.
Er reicht Luther eine graue Mappe.
Luther lehnt sich an die Wand und blättert die Akte durch. Sieht
Festnahmeprotokolle, Fahndungsfotos, Überwachungsberichte.
Die obersten Blätter enthalten die Daten der Jugendlichen, die
festgenommen, in Gewahrsam behalten und wieder freigelassen wurden, nachdem sie
Bill Tanner schikaniert hatten: fiese Typen mit leeren Augen, englischer White Trash .
Hinter den Festnahmeprotokollen befinden sich ausführlichere
Berichte über Lee Kidman, Barry Tonga und ihren Auftraggeber Julian Crouch.
Luther steckt den Ordner in eine Plastiktüte und sieht auf die Uhr.
Es ist spät. Er überlegt, nach Hause zu fahren. Aber was würde das
bringen? Er denkt an die Toten und kann nicht schlafen. Er liegt da und brodelt
wie ein Vulkan kurz vor der Explosion.
Also fährt er zu Crouchs Haus, einem Stadthaus mit Blick auf den
Highbury-Fields-Park.
Er hält an und bleibt am Steuer sitzen. Er überlegt, was er Julian
antun und wie er damit ungestraft davonkommen soll.
Schließlich öffnet er den Kofferraum per Knopfdruck, geht um den
Volvo herum und holt den Hickorystiel einer Spitzhacke heraus. Er spürt sein
beruhigendes Gewicht.
Er durchquert den Park und wartet in der Dunkelheit, den
Spitzhackenstiel fest umklammert.
Kurz nach halb fünf fährt ein makelloser Jaguar-Oldtimer vor.
Julian Crouch steigt aus. Er hat widerspenstiges, lockiges Haar, den
Ansatz einer Glatze. Wildledermantel, Paisleyhemd. Weiße Adidas-Schuhe.
Er schließt die Haustür auf und schaltet das Licht ein – bleibt aber
auf der Schwelle stehen, vom Kronleuchter hinter ihm angestrahlt. Er wittert
etwas wie Wild an einem Wasserloch. Er weiß, dass jemand da draußen ist und ihn
beobachtet.
Er runzelt die Stirn und schließt die Tür, schlurft über
Marmorfliesen.
Luther starrt auf das Haus, atmet heftig.
Lichter gehen an.
Crouch kommt an sein Schlafzimmerfenster. Er schaut herunter wie ein
verwirrter König aus seinem hohen Schloss, späht in die schwarze Nacht. Dann
zieht er die Vorhänge zu und schaltet das Licht aus.
Luther steht Wache. Sein Herz gleicht einem Feuerkessel.
Irgendwann huscht ein Fuchs die leere Straße entlang. Luther kann
das schnelle, klare Klacken
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