Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Tiefe,
während er Gott dafür dankte, dass er halbwegs schwindelfrei war.
Der erste Felsvorsprung versperrte ihm tatsächlich auch von hier oben
die Sicht auf den zweiten. Ben nahm einen dicken, schweren und kurzen
Ast, den er von weiter unten mitgebracht hatte, und schleuderte ihn in die Tiefe. Der Ast blieb nach einem beeindruckenden Flug auf dem nächsten
Felsvorsprung liegen. Jetzt war Ben sich sicher, dass Darius niemals
einfach nur am Rand ausgerutscht war. Wenn das der Fall gewesen wäre,
wäre er auf dem ersten Vorsprung gelandet und hätte den Sturz
höchstwahrscheinlich überlebt.
Doch sein Mentor war auf dem zweiten Felsvorsprung aufgeschlagen,
tödlich, und das ließ nur eine Erklärung zu: Jemand, der erheblich größer und stärker als der alte Pater gewesen war, hatte ihn gepackt und weit
über den ersten Vorsprung hinausgeschleudert.
8.
Gegenwart, Rom, Apostolischer Palast
Es gab Tage, da hätte Seine Heiligkeit Leo XIV. die Apostolische
Verfassung samt aller lebenden Kurienkardinäle am liebsten zum Teufel gejagt. Es gab Tage, da wünschte er sich – bei aller Demut den wahren
Gläubigen und bei allem Respekt den aufrichtigen Zweiflern
gegenüber –, er hätte die Wahl zum Pontifex maximus, zum
Stellvertreter Christi auf Erden, zum Oberhaupt der katholischen Kirche
abgelehnt.
Doch er hatte es nicht getan. Er hatte in der Sixtinischen Kapelle
gestanden, unter dem von Michelangelo erschaffenen Deckenfresko, und
die Frage des Carmelengo mit »Ja, ich nehme die Wahl an« beantwortet, ganz wie es ihm ein vertrauter Freund prophezeit hatte.
Natürlich hatte Leo zu ahnen geglaubt, was sein konservativer
Vorgänger Papst Innozenz bei ihren seltenen Treffen im Vatikanpalast
gemeint hatte, wenn er von der Ohnmacht der Macht oder vom Alptraum
der Hilflosigkeit gesprochen hatte. Aber erst das eigene Leben als Papst hinter vatikanischen Mauern hatte ihn wieder an die alte Weisheit
erinnert, dass zu wissen glauben und tatsächlich zu wissen selten
dasselbe Paar Schuhe sind. Die Päpste der Vergangenheit hatten ihm
eine schwere Erblast hinterlassen. Leo war der Chef einer gewaltigen
Bürokratie, die sich auf Gott und die Wahrheit berief, doch die
Wahrhaftigkeit schien für die meisten seiner Mitbrüder nur noch ein
lästiges Detail zu sein.
Leo erhob sich aus dem Betstuhl und verneigte sich vor dem Kreuz. Die
traditionelle morgendliche Einkehr, die Messe, die Lobpreisung und das
erste Stundengebet hatten für ihn nie ihre spirituelle Bedeutung verloren.
Nur zu gern nutzte er diese frühe Stunde zum Nachdenken und zur
Meditation.
Er verließ die kleine Privatkapelle, ging hinüber zu seinem
Schlafgemach und warf einen Blick auf den jüngsten Bericht seines
Sicherheitschefs und Großinquisitors Kardinal Ciban. Dessen Bericht war so kurz und bündig wie immer, verschwendete keine Zeit und
besagte schlichtweg, dass die laufenden Ermittlungen im Falle der
Morde nach wie vor auf der Stelle traten, weshalb letztlich nur Seine
Heiligkeit selbst diesen Zustand ändern könne.
Mit nichts anderem hatte Leo gerechnet. Ciban nahm kein Blatt vor den
Mund. Vor niemandem. Nicht einmal vor ihm, dem Papst.
Leo holte tief Luft. Sollte Pater Darius tatsächlich Opfer eines Attentats geworden sein, so hatten sie es inzwischen mit drei Morden zu tun. Den
allerersten hatte man noch für einen Unfall gehalten. Schwester Isabella Rodik aus Koblenz, eine begeisterte Autofahrerin, hatte im Frühjahr
während einer Tour durch die Schweizer Alpen die Kontrolle über ihren
VW Beetle verloren und war mehrere hundert Meter in den Tod gestürzt.
Doch dann war drei Monate später Pater Sylvester André, ein
ausdauernder Schwimmer, an der Côte d’Argent in Südwestfrankreich
tot an Land gespült worden. Beide Ordensleute hatten einer ganz
besonderen Elite angehört: der Kongregation Seiner Heiligkeit.
Leo war von Kardinal Cibans Frage, ob es sich bei den Toten womöglich
um zwei seiner Ratsmitglieder handeln könne, regelrecht überrumpelt
worden. Einerseits hatte er den mentalen Kräfteverlust seit geraumer
Zeit, wenn auch nur unterschwellig, gespürt. Andererseits hatte er dieses Gefühl verdrängt und weitergearbeitet, als wäre nichts geschehen. Jetzt, im Nachhinein, wurde ihm jedoch klar, weshalb es ihm in den letzten
Monaten schwerer gefallen war, all die Informationen, die sich tagtäglich auf seinem Schreibtisch in den verschiedensten Sprachen ansammelten,
aufzunehmen, zu
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