Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
werde ich gleich aufbrechen«, hatte er geantwortet, in der
Hoffnung, dass Ciban ihm nicht anmerkte, wie sehr ihn der Tod seines
Mentors erschütterte.
Doch der Präfekt hatte sehr wohl gewusst, welch eine Bürde er ihm mit
dieser Reise auferlegte, denn er hatte genickt, und in den sonst so auf
Distanz bedachten kühlen Augen hatte sich ein Hauch von Mitgefühl
gezeigt.
Ben setzte die Untersuchung an dem Leichnam in der Stille der
ehemaligen Sakristei fort. Der Rumpf war tatsächlich so voller
Prellungen, Quetschungen und Hämatome, dass die Chance gleich null
war, noch eine Spur von Gewaltanwendung zu finden. Ciban hatte Recht
behalten.
Nachdem er die Untersuchung abgeschlossen hatte, brachte er den Leib
wieder in seine friedliche Position zurück, holte tief Luft und deckte
Darius zu. Noch immer fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass hier, in
dieser abgelegenen Abteikirche, der tote Körper jenes Mannes lag, der
seinem Leben überhaupt erst eine Richtung, ein Ziel, einen Sinn gegeben
hatte. Niemals hätte Ben sich ohne Darius’ und Catherines Freundschaft
von den Geschehnissen in der Old Church erholt. So knapp war er dem
Tode entronnen, und nicht einmal die Gabe, die er als Kind besessen
hatte, hatte ihn vor Mr. Eliots Irrsinn gewarnt.
Bens Blick verweilte auf dem Leichnam. Draußen tobten das Unwetter,
der Regen und der Sturm, doch das war ihm gleich. Er würde Abt
Dominikus um einen erfahrenen und ortskundigen Begleiter bitten. Er
würde noch heute den vermeintlichen Tatort aufsuchen und den Ort, wo
der Tote gefunden worden war. Dann würde er nicht nur herausfinden,
ob Darius ermordet worden war. Er würde, sofern es sich um Mord
handelte, auch ermitteln, wer der Mörder war!
6.
12. Oktober 1984, Chicago,
Katholische Grundschule für Hochbegabte
Der Tag, an dem Catherine das Institut das erste Mal betrat, war ein
regnerischer, grauer und düsterer Oktobertag. Ein kalter Sturm blies von Norden her und peitschte den Regen über die Wälder. Es grollte und
blitzte, als läge das Institut ganz nahe bei einem Höllenschlund. Das
Gebäude war mit nichts zu vergleichen, was Catherine je im Fernsehen
oder in Büchern gesehen hatte.
Den Kern des Anwesens bildete ein noch im Bau befindlicher, auf einem
Hügel gelegener Turm, der schon jetzt so gigantisch war, dass er wie ein riesiger mahnender Zeigefinger vor der Stadt aufragte. Die schwarze
Limousine, mit der Pater Darius sie von der Schule abgeholt hatte,
brauchte eine ganze Viertelstunde vom Eingangstor bis zu dem Turm mit
seinen umliegenden Gebäuden.
»Du musst dir keine Sorgen machen«, sagte der Pater, als hätte er ihre
Gedanken gelesen. »Du wirst einige sehr interessante Menschen
kennenlernen und Freundschaften schließen. Sollte es dir zu viel werden, dann sagst du mir einfach Bescheid, und ich fahre dich sofort wieder
nach Hause zurück.«
Catherine nickte erleichtert, während ihr jagender Puls sich beruhigte.
Dass die Worte ihres Begleiters kein leeres Gerede waren, konnte sie an
seinen Gedanken sehen.
Darius zeigte ihr das Gelände – zumindest den wettergeschützten Teil.
Dann erkundete sie die Wohnräume, die erstaunlich hell, luftig und
wohnlich wirkten. Es folgten die Studierzimmer, der Speisesaal, die
Sporthalle, das Schwimmbad, die Bibliothek und vieles mehr. Alles
schien voller tollender und glücklicher Kinder zu sein.
Catherine hatte gerade angefangen, etwas Vertrauen in die neue
Umgebung zu haben, als Darius ihr jenen Gebäudekomplex zeigte, den
er den spirituellen Bereich nannte. Trotz des beeindruckenden
Wintergartens und des überdachten Innenhofes mochte sie diesen
Bereich überhaupt nicht. Er wirkte wie eine Mischung aus restauriertem
Kloster, Bahnhofsvorhalle und medizinischem Labor. Nein, hier würde
sie keinen Tag länger bleiben.
Doch dann bogen sie um die nächste Ecke, und Catherine erblickte zum
ersten Mal die Galerie …
Dutzende, Hunderte, Tausende von Bildern. Allesamt Fotografien von
Menschen, Tieren und Pflanzen. Allerdings zeigten diese Aufnahmen
nicht die abgelichteten Gegenstände selbst, sondern deren – Gedanken!
Pater Darius trat neben sie und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »In dieser Abteilung fragen wir uns: ›Erkennen wir die
Welt so, wie sie wirklich ist?‹ Dabei unterscheiden wir zwischen
übermenschlich und übernatürlich. Diese Galerie trägt den Namen
Corona.«
Corona. Catherine starrte die Fotos wie hypnotisiert
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