Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
nächsten
Tagen verlassen, so informieren Sie zuvor bitte Seine Heiligkeit oder
mich.«
»Ich habe nicht vor, den Palast zu verlassen, geschweige denn den
Vatikan«, erklärte sie fest. Ciban hielt seinen Blick weiter auf sie
geheftet. »Also gut. Sie haben mein Wort.«
»Danke, Schwester.« Der Präfekt nickte zufrieden.
Der restliche Tag hielt keine besonderen Herausforderungen für
Catherine bereit. Sie half – vor allem weil sie selbst darauf bestand – den Nonnen des päpstlichen Haushaltes bei der Hausarbeit und bekam so
einen Einblick in den Alltag hinter den Kulissen des Apostolischen
Palasts.
Am Abend, sie hatte sich nach einem Gespräch mit dem Heiligen Vater
gerade in ihr Zimmer zurückgezogen, überkam sie ein überwältigendes
Bedürfnis nach Schlaf. Eine bleierne Schwere breitete sich in ihr aus,
glitt bis tief in die Knochen, ergriff von jeder Zelle ihres Körpers Besitz.
Noch nie zuvor hatte sie ein solch überwältigendes Schlafbedürfnis
erlebt. Es duldete einfach keinen Aufschub, daher schaffte sie es gerade noch, sich auf das Bett fallen zu lassen.
Die Welt um sie herum löste sich auf und nahm völlig neue Formen und
Farben an. Ein kräftiger Wind wehte ihr ins Gesicht, vor ihr lag ein
riesiger See. Catherine wusste sofort, sie stand am westlichen Ufer des
Sees Tiberias, auch See Genezareth genannt, und blickte auf die vom
Fischfang zurückkehrenden Boote.
Neben ihr stand ein Mann, in ein weißes Leinengewand gehüllt, um die
Lenden einen Gürtel aus feinstem Gold. Sein Leib war wie Chrysolith,
sein Antlitz sah aus wie der Blitz. Catherine erkannte in ihm einen der
vier Engel, die unmittelbar bei Gott standen. Der Engel behütete ein am
Ufer spielendes Kind, ein kleines Mädchen mit kastanienbraunem Haar,
dessen Vater beim Entladen eines der Boote half. Nur die Kleine, die
zwischen den aufgestapelten Kisten spielte, und Catherine vermochten
den Mann mit dem flammenden Antlitz wahrzunehmen.
»Ohne ihr Mitwirken, ohne ihre Weisheit und Zeugenschaft wird es
keinen Wandel geben«, sagte der Engel und wandte einen Teil seiner
Aufmerksamkeit Catherine zu. Er deutete auf das Kind, und seine Augen
loderten wie Fackeln. »Mit ihr steht und fällt das Werk.«
Catherine fragte sich, welches Werk er damit wohl meinte. »Wer ist
sie?«
»Der Spiegel, durch den sich die Welt bald sieht, auch wenn ihre Worte
durch einen anderen verkündet werden. Du bist ihr bereits einmal
begegnet, in deinem Traum.«
Eine der turmhoch aufgestapelten Fischkisten kam ins Rutschen und glitt
in Richtung des Kindes, doch kaum hatte Catherine die Gefahr
wahrgenommen, da hatte der Mann die Kiste auch schon mit einer
knappen Handbewegung aufgehalten.
»Ich erinnere mich nicht, diesem Mädchen schon einmal begegnet zu
sein«, entgegnete Catherine, in dem Bewusstsein, dass das Kind ohne die
Hilfe des Engels wahrscheinlich zu Tode gekommen wäre.
»Du hast mit ihr geredet. Gestern Nacht. Ihr habt über die Dunkelheit
und das Licht gesprochen. Über die Hoffnung für das, was kommt.«
»Maria?«
Der Mann mit den Feueraugen nickte. »Maria von Magdala.«
»Aber sie ist noch ein Kind!«
»Das wird sie in ihrem Herzen auch bleiben, im Namen der Wahrheit. Im
Namen der Einheit von Himmel und Erde. Sie ist das erste Kapitel des
Neuen Testaments.«
Catherine blickte den Engel an. Erst jetzt erkannte sie, dass das Wesen
neben ihr gar kein Geschlecht hatte. Sein feuriges Antlitz mit dem
goldenen Haar war ebenso männlich wie weiblich. Vermutlich hatte das
Kind, Maria, den Engel von Anfang an so gesehen.
»Welchen Sinn haben diese Träume?«, fragte Catherine geradeheraus.
Sie wusste nur zu gut, dass viele der menschlichen Ängste und
Sehnsüchte in Träumen, aber auch Geisteskrankheiten zutage traten.
Womöglich verlor sie nach und nach den Verstand.
Die Mundwinkel des Engels verzogen sich zu einem leisen Lächeln.
»Was denkst du wohl?«
»Sie sollen mir etwas zeigen. Nur was?«
»Diese Träume sind mehr als Träume, Catherine«, erklärte der Engel
ruhig. »Es sind Erinnerungen.«
»Erinnerungen? Aber was ich hier sehe, ist ferne Vergangenheit. Wie
kann ich mich an etwas erinnern, dass ich selbst nie erlebt habe?«
»Wer sagt, dass es deine Erinnerung ist?«
Catherine starrte den Engel an, als erwarte sie, dass er sich jeden
Augenblick in Kardinal Benelli verwandelte. Doch auch Benellis
Erinnerung konnte es unmöglich sein. Doch wessen war es dann? Jene
aus einem
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