Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
kosmischen Gedächtnis, in dem alle vergangenen,
gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse enthalten waren? Es gab
Theorien darüber – auch innerhalb des Lux –, dass medial begabte
Menschen dieses kosmische Gedächtnis anzapfen konnten. So
versuchten sich zum Beispiel Esoteriker paranormale Phänomene wie
Hellsehen zu erklären. War es möglich, dass Benellis zusätzliche Energie Catherine nun an diesem Gedächtnis teilhaben ließ?
Der Engel ergriff ihre Hand, ohne sie zu verbrennen, und sie tauchten in eine andere Szenerie ein. Catherine befand sich plötzlich in einem Dorf, wo überall Kinder zwischen den einfachen Häusern herumtollten.
»Das sind Jakobus, Johannes, Judas und Simon«, erklärte der Engel und
ließ ihre Hand los.
»Jesu Jünger …«, sagte Catherine ehrfürchtig.
»Jesu Brüder«, erklärte der Engel und trat auf die Kinderschar zu.
Erst jetzt erkannte die junge Frau den Heiligenschein, der jedes der
Kinder umgab. Wie bei der kleinen Maria. »Und wo ist Jesus?«, fragte
sie.
Der Engel deutete auf eine etwas abseits gelegene Hütte. »Sein Herz ist
schwer. Er hat das Los des Erlösers gezogen. Außerdem hat er einen
Schatten seiner Zukunft gesehen. Nicht einmal Judas vermochte ihn zu
trösten.« Die Kinder hüpften um den Engel herum, bis auf einen Jungen,
der den Engel und Catherine neugierig ansah.
»Das ist Judas«, erklärte ihr Begleiter ruhig. »Er hat das Los des
Verräters gezogen.« Der Engel streckte die Hand aus, woraufhin der
Junge wie in Trance auf ihn zulief und die junge Frau aus unsicheren
Augen anblickte.
Der Engel machte eine Geste, ein gleißender Blitz fuhr vom Himmel,
und die Traurigkeit fiel von dem Kind ab.
Catherine, die alles ruhig beobachtet hatte, kehrte zu ihrer Frage zurück:
»Ich verstehe noch immer nicht, was mir diese Träume sagen sollen.«
Ihr Begleiter sah sie voller Zuneigung an. »Du kennst das Ziel, doch du
kennst nicht den wahren Weg. Schon bald wirst du verstehen. Geh jetzt
und ruhe dich aus. Für heute hast du genug gesehen.«
Die fremdartige Welt um Catherine herum löste sich auf, der Engel
verschwand. Doch als sie aus ihrem Traum erwachte und die Augen
aufschlug, glaubte sie noch immer, den Geruch des Sees Genezareth
wahrzunehmen und den kräftigen Wind in ihrem Gesicht zu spüren. Sie
blinzelte, riss sich zusammen, setzte sich auf und musterte ihre
Umgebung. Die kostbare Tapete, den antiken Schrank, das Regal, den
Tisch, den Stuhl, das Bett, auf dem sie lag, das Kruzifix an der
gegenüberliegenden Wand … Sie war eindeutig wieder in ihrem Zimmer
im Apostolischen Palast und nicht im Palästina zur Zeit Maria
Magdalenas. Ihr Blick fiel auf den Reisewecker auf dem Nachttisch.
Keine Minute war vergangen, oder aber die Uhr war stehen geblieben.
Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, Ben eine E-Mail
zu schicken oder mit ihm zu chatten, doch dann erinnerte sie sich daran, wo sie sich gerade befand. Nein, lieber kein längerer Austausch über das Netz. Eine kurze SMS musste als Andeutung genügen. Gleich morgen
würde sie eine Nachricht an Ben schicken, und sie wusste auch schon
den Wortlaut: »Gabriel war hier. Gruß, Catherine.«
40.
Westbengalen, Kalkutta
Monsignore Nicola DeRossi verließ die Passagiermaschine, die halb leer
gewesen war, und stieg die angedockte Metalltreppe zum
ölverschmierten Boden des Flughafens Kalkutta hinunter. Diesmal war
er als italienischer Geschäftsmann und Gourmet unterwegs, auf der
Suche nach noch unbekannten indischen Gewürzen, die er an
Toprestaurants in der reichen westlichen Welt verkaufen wollte.
Abgesehen vom Geruch des Kerosins hatte er schon auf dem Rollfeld
den Eindruck, dass ihm der Geruch der Megacity entgegenschlug. Da es
keinen Direktflug von Rom nach Kalkutta gab, hatte der Agent des
Meisters es so arrangiert, dass deRossi den Weg über Deutschland
genommen hatte, und so war er als wohlhabender Geschäftsmann von
Frankfurt aus mit der Lufthansa nach Westbengalen gereist.
Tipps für Kalkutta brauchte er nicht, denn er hatte die Stadt schon einige Male in den letzten Jahren besucht. Sie kam gewissen Neigungen, die er
in sich verspürte, sehr entgegen. Auch der Meister profitierte in nicht
unerheblichem Maße von der Korruption, die die Armut des Molochs
hervorbrachte. Überhaupt hatte der Meister Kontakte überall in der Welt, daher wartete einer seiner indischen Agenten bereits am Ausgang.
DeRossi dachte noch einmal über das
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