Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
erst dann in die Kolonie, wenn
ihre Körper schon verstümmelt und von Geschwüren bedeckt waren,
wenn die Dorfgemeinschaft sie längst ächtete und verstoßen hatte, und
so lebten in Shanti Nagar viele Menschen mit leprabedingten
Behinderungen.
Dass Shanti Nagar überhaupt existierte, verdankte die »Stadt des
Friedens« dem Mut und dem Tatendrang eines einzigen Menschen:
Agnes Gonxhe Bojaxhiu, der späteren Mutter Teresa, für die ein Gebet
ohne Tat kein wirkliches Gebet war. Tätiger Glaube war Liebe, und
tätige Liebe war Dienst. Schwester Silvia hatte viele Jahre an Mutter
Teresas Seite gearbeitet und deren unvergleichbare Hingabe bei der
Pflege von Kranken und Sterbenden bewundert. Der »Engel der Armen«,
wie die Menschen aus dem reichen Westen sie noch heute, nach ihrem
Tod, nannten.
Oftmals hatte Schwester Silvia Mutter Teresa auf ihren Wegen durch die
engen und schmutzigen Gassen der Slums begleitet, mit den
notwendigsten Medikamenten ausgestattet, um den Kranken zu helfen.
Dabei hatte sie, ohne dass es der Älteren je bewusst geworden wäre, von
den starken Glaubenszweifeln erfahren, die Mutter Teresa gequält hatten, und das lange bevor die Öffentlichkeit von der Korrespondenz der
katholischen Missionarin mit ihren geistlichen Begleitern erfahren sollte.
In dieser Korrespondenz hatte Mutter Teresa von einer tiefen Leere und
Dunkelheit in ihrem Innern gesprochen, davon, dass sie keinen Glauben
mehr hatte und dass sie es kaum wagte, diesen Gedanken auszusprechen.
Von Gott verlassen hatte sie sich gefühlt, doch trotz all ihrer Zweifel, all ihrer Qual, hatte sie ihr Lächeln nie verloren, ebenso wenig wie ihre
außergewöhnliche Hingabe an die Ärmsten der Welt.
»Wenn ich jemals eine Heilige werden sollte«, hatte Teresa einmal
gesagt, »dann ganz gewiss eine ›Heilige der Dunkelheit‹. Ich werde
fortwährend im Himmel fehlen, um für all jene ein Licht zu entzünden,
die auf Erden in Finsternis leben.«
Schwester Silvia seufzte innerlich, denn das waren jene Momente
gewesen, in denen sie nahe daran gewesen war, den heiligen Eid zu
verletzen, mit dem sie dem Papst und dem Gremium gegenüber
verpflichtet war. Wie gerne hätte sie damals Teresa »bewiesen«, dass
Gott sie niemals verlassen hatte, nicht eine Sekunde, ganz im Gegenteil.
Er hatte Mutter Teresa vielmehr Silvia und all die anderen Helfer zur
Seite gestellt. Niemals war die Missionarin von Gott verlassen und allein gewesen, auch wenn sie sich in ihrem Innern so gefühlt hatte. Doch
Schwester Silvia hatte das Dilemma ihrer Weggefährtin nur zu gut
verstanden. Ganz gleich wie hart Teresa gearbeitet hatte, ganz gleich wie sehr sie für die Ärmsten der Armen gekämpft hatte, das Elend in den
Straßen Kalkuttas hatte nie ein Ende, sondern stetig zugenommen.
Schwester Silvia trat durch das Eingangstor der Kolonie und blickte auf
einen dürren, verstümmelten Menschen, fast noch ein Kind.
Das Mädchen war viel zu schwach, um es ohne Hilfe bis zur
Krankenstation zu schaffen. Die Verwandten hatten die Kranke in ihrer
Verzweiflung hier abgelegt, in der Hoffnung, dass sie wenigstens hinter
den Toren der Kolonie eine Chance haben würde zu überleben. Das
erkannte Schwester Silvia daran, dass man dem Mädchen ein Stück Brot
für die Wartezeit mitgegeben hatte und etwas Wasser. Vermutlich würde
die Kleine fortan sogar ein besseres Leben führen als ihre Eltern und
Geschwister in der Stadt. Doch leider hatte man damit gewartet, bis das
Mädchen ein Krüppel war.
Schwester Silvia berührte die Patientin, streichelte ihr über den Kopf,
tröstete sie und bemerkte ein Leuchten in den dunklen Augen. Dann hob
sie die Kleine hoch, als wäre sie so leicht wie eine Feder.
»Wie heißt du, mein Kind?«, fragte sie.
»Asira«, antwortete das Mädchen zögernd und begegnete ihrem Blick.
»Asira … ein schöner Name!«
Schwester Silvia gab der Kranken einen Kuss und ließ sich ihre
Überraschung nicht anmerken. Soweit sie wusste, war Asira ein
arabischer Name, und er bedeutete »die Auserwählte«.
38.
Rom, Vatikan, Apostolischer Palast
Der Meister verfolgte die Sendung auf einem mittelgroßen
Flachbildschirm in seinem Arbeitszimmer im Vatikan. Die Sendung
wurde live von einem katholischen TV-Sender übers Internet übertragen,
und sie zeigte etwas, das eigentlich völlig unmöglich war: einen vor
Energie und Lebensfreude strotzenden Papst beim Gebet mit den
Gläubigen und Rompilgern. Zigtausende
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