Lux perpetua
herrscht Durcheinander, auf den Straßen tauchen Flüchtlinge auf. Da kann man sich immer
jemandem anschließen. Wir wären nicht allein. Und mit ein bisschen Glück könnte es uns gelingen, uns durchzuschlagen
. . .
«
»Wohin?«
»Zu den Hussiten selbstverständlich! Dein Liebster, hast du gesagt, ist bei ihnen ein bedeutender Mann. Das ist deine Chance,
Jutta. Unsere Chance.«
»Erstens«, bemerkte Jutta nüchtern, »haben wir nur Gerüchte vernommen. Im Juni haben sie auch Panik verbreitet, es war von
Tausenden von Hussiten die Rede, die nach Zittau und Görlitz ziehen. Und dann ist es nur zu einem unbedeutenden Zug an der
schlesisch-sächsischen Grenze gekommen. Jetzt kann es doch genauso sein.«
»Und zweitens?«
»Ich habe gesehen, was die Hussitenzüge in Schlesien angerichtet haben. Die Hussiten morden und brennen alles nieder, was
an ihrem Weg liegt. Wenn wir auf blutrünstiges Gesindel treffen, dann ist es aus mit uns. Reynevans Name wird uns da auch
nicht retten. Ihn kennen wahrscheinlich nur einige ranghöhereOffiziere, die Gemeinen haben wohl nichts von ihm gehört.«
»Also müssen wir darüber nachdenken«, Veronika stand auf und ließ den Habit herunter, »wie wir an den Gemeinen vorbei zu den
Offizieren gelangen könnten. Das ließe sich machen. Warten wir also ab, wie sich die Ereignisse entwickeln, Jutta, und halten
Ausschau nach einer Gelegenheit. Einverstanden?«
»Einverstanden. Warten wir die Entwicklung ab und halten wir Ausschau.«
Die Ereignisse entwickelten sich wohl schon, jedenfalls ließen dies die Informationsfetzen und Gerüchte vermuten, die nach
Cronschwitz durchdrangen.
Kurz nach dem Festtag der heiligen Lucia versetzte die Nachricht vom nächsten Kriegszug, von einer gewaltigen Hussitenarmee,
die durchs Erzgebirge nach Sachsen, ins Tal der Elbe, gezogen war, das Kloster in Aufregung. Veronika blickte Jutta bedeutsam
an, Jutta nickte.
Nun war nur noch auf eine Gelegenheit zu warten.
Und die fand sich recht rasch. Wie auf Bestellung.
In Cronschwitz erschienen oft Gäste, meist von hohem weltlichen Rang oder Hochgestellte in der kirchlichen Hierarchie. Das
Dominikanerinnenkloster in Thüringen war bedeutend, man legte auch Wert auf Meinung und Stimme der aus einer bedeutenden Familie
stammenden Äbtissin. Während Juttas Aufenthalt hatte sogar Anna von Schwarzburg-Sondershausen, die Gemahlin des Landgrafen
von Thüringen, höchstpersönlich das Kloster mit ihrem Besuch beehrt. Der erzbischöfliche Vikar von Mainz, ein Scholastiker
aus Naumburg, der Abt des Benediktinerklosters in Bosau und diverse Prälaten, manchmal aus recht entlegenen Diözesen, waren
zu Besuch gekommen. Es war die Regel und eigentlich das Verdienst der Äbtissin, dass ein jeder Gast vor den Nonnen eine Predigtoder einen Vortrag zu halten hatte. Die Themen dieser Vorträge waren höchst unterschiedlich: die Transsubstantiation, die
Erlösung, das Leben der Heiligen und der Kirchenväter, die Exegese der Schrift, die Häresie und ihre Folgen, der Teufel und
sein Machwerk, der Antichrist. Das Thema war im Grunde genommen gleichgültig, es ging mehr darum, die quälende Langeweile
zu bekämpfen. Darüber hinaus waren einige der Vortragenden ansehnlich und verdammt männlich, und sie lieferten den Nonnen
für lange Zeit Stoff zu Seufzern und Träumen.
An diesem Tag, am neunzehnten Dezember 1429, dem Montag nach dem letzten Adventssonntag,
ad meridiem
, als die Wintersonne die farbigen Fenster, die das Martyrium des heiligen Bonifaz darstellten, schön beleuchtete, erschienen
vor den im Kapitelsaal versammelten Nonnen und Mädchen vier Personen. Die ehrwürdige Constantia von Plauen, die Priorin des
Klosters, Peter von Haugwitz, der Beichtvater des Klosters und Kanonikus am Kollegiatstift von Zeitz. Ein älterer, hochgewachsener,
asketisch hagerer Herr, zwar ein Geistlicher, aber sehr weltlich gekleidet in ein Wams aus venezianischem Brokat. Und ein
jüngerer blonder Mann in Reynevans Alter in Universitätskleidung, mit einem sympathischen Gesicht, blitzenden Augen und wallendem
Haar.
»Liebe Schwestern«, sagte Constantia von Plauen, die im Regenbogenlicht der bunt bemalten Glasfenster wie eine Königin aussah,
»Oswald von Langenreuth, der Kanonikus von Mainz, der Vertraute des guten Hirten unserer Diözese, des ehrwürdigen Konrad von
Dhaun, hat uns heute mit seinem Besuch beehrt. Auf unsere Bitten hin wird uns der Kanonikus heute eine
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