Lux perpetua
können, Bücher lesen,
disputieren, unsere Gedanken frei austauschen? Wo es uns erlaubt ist, wir selbst zu sein. Das Gitter, das du herausgerissen
hast, die Mauer, von der du gesprungen bist, die halten uns nicht gefangen. Sie schützen uns, uns und unsere Freiheit. Vor
einer Welt, in der Frauen Teil des Hausinventars sind. Nur wenig mehr wert als eine Milchkuh und viel weniger als ein Schlachtross.
Mach dir keine Illusionen, glaub nicht, dass deinGeliebter, für den du so einen komplizierten Bruch riskiert hast, anders ist. Er ist nicht anders. Heute liebt und verehrt
er dich, wie Pyramus seine Thisbe, wie Erec seine Enide, wie Tristan seine Isolde. Morgen wird er dich mit dem Stock verprügeln,
wenn du ungefragt das Wort ergreifst.«
»Ihr kennt ihn nicht. Er ist anders. Er
. . .
«
»Genug!« Sophia von Schellenberg winkte ab. »Brot und Wasser eine Woche lang!«
Jutta blätterte, am Lesepult stehend, in Galens ›De antidotis‹, einem langweiligen Werk, das sie aber an Reynevan erinnerte.
Veronika hatte aus einer Ecke eine Laute hervorgeholt und klimperte darauf herum. Außer ihnen waren im Skriptorium noch zwei
Buchmalerinnen und die Konversen und Novizinnen, die in dieser Kunst unterwiesen wurden. Alle waren um die füllige Schwester
Richenza versammelt. Schwester Richenza, eine recht schlichte Person, hatte mit Jutta und Veronika ein Abkommen geschlossen:
den Pakt, sich gegenseitig nicht ins Gehege zu kommen.
Veronika schlug die Beine übereinander und stützte die Laute aufs Knie.
» Ben volria mon cavalier . . .«
Sie räusperte sich. Dann begann sie zu singen.
Ben volria mon cavalier
tener un ser e mos bratz nut,
q’el s’en tengra per ereubut
sol q’a lui fezes cosseiller;
car plus m’en sui abellida
no fetz Floris de Blanchaflor:
eu l’autrei mon cor e m’amor
mon sen, mos houills e ma vida!
»Leiser, Fräulein! Schluss mit diesem Lärm!«
»Nicht einmal singen darf man!«, brummte Veronika und legte die Laute weg. »Jutta? He, Jutta!«
»Wie war’s denn«, Veronika senkte die Stimme, »mit deinem Medicus?«
»Was willst du denn wissen?«
»Du weißt schon. Lass doch das Buch und komm her. Lass uns reden. Meiner, du weißt schon, mein Cousin
. . .
Hör mal
. . .
Beim ersten Mal
. . .
Es war Oktober, es war kalt, ich hatte also unter dem Kleid wollene Beinkleider an. Sehr enge. Und der Blödmann
. . .
«
Das Kloster veränderte einen. Noch vor einem Jahr hätte Jutta es nicht für möglich gehalten, dass sie sich ungeniert die farbigen
Schilderungen intimer Details der erotischen Beziehungen ihr fremder Personen würde anhören können. Nie, niemals hatte sie
es zuvor für möglich gehalten, dass sie jemandem irgendwann erotische Details ihrer Liebschaft mit Reynevan erzählen würde.
Jetzt wusste sie, dass sie erzählen würde. Erzählen wollte.
Das Kloster veränderte einen.
»Und zum Schluss hat dieser Blödmann auch noch gefragt: War’s schön für dich?«
»Was flüstert ihr denn da?«, fragte Schwester Richenza, die sich dafür zu interessieren begann. »Ihr zwei da, die Edelfräulein?
He?«
»Wir reden von Sex«, antwortete Veronika frech. »Wie? Ist das vielleicht verboten? Ist Sex verboten?«
»Nein.«
»Ach, der ist nicht verboten?«
»Ist er nicht.« Die Nonne zuckte mit den Achseln. »Der heilige Augustin lehrt:
Ama et fac quod vis.
Liebe und dann tu, was du willst.«
»Ach ja?«
»Ach ja. Schwatzt ruhig weiter.«
Nachrichten aus der Welt fanden nur mit Mühe ihren Weg durch die Klostermauern, aber von Zeit zu Zeit gelangten sie doch hinein.
Kurz nach Michaeli verbreitete sich die Meldungvon einem Schlag der Hussiten gegen die Oberlausitz, von zehntausend Böhmen unter der Führung des schrecklichen Prokop, der
allein schon durch den Klang seines Namens Furcht erregte. Es war von einem Angriff auf das Kloster der Cölestiner auf dem
Oybin die Rede, vom Sturm auf Bautzen und Görlitz, unter zahlreichen Opfern abgewehrt, und von der Belagerung von Zittau und
Cottbus. Mit vor Angst zitternder Stimme wurde vom Niedermetzeln der Bevölkerung im eroberten Guben berichtet und von einem
blutigen Massaker in Kamenz. Veronika hörte gespannt zu, dann winkte sie Jutta zum
necessarium
, dem Ort, der ihnen schon lange für ihre Beratungssitzungen diente.
»Das könnte unsere Chance sein«, erklärte sie, während sie sich auf das Loch im Brett setzte. »Die Böhmen könnten von der
Lausitz aus nach Sachsen einfallen. Es
Weitere Kostenlose Bücher